Das Mahler Chamber Orchestra zelebriert Johannes Brahms in der Laeiszhalle

Hamburg. Wenn ein Orchester ganz von alleine wie auf glühenden Kohlen spielt, muss der Dirigent gar nicht mehr viel machen, sondern nur noch die Richtung andeuten. Mit dem Mahler Chamber Orchestra hat Daniel Harding genau so ein leicht entflammbares Luxusensemble zur Verfügung. Und der nach wie vor ziemlich junge britische Maestro präsentierte sich am Freitagabend in der Laeiszhalle als gewiefter und mittlerweile auch absolut punktgenauer Funkengeber. Er ächzte und krächzte zwar noch immer hörbar mit, fuchtelte aber sehr viel weniger mit den Armen als früher und bündelte die Energie seiner Musiker stattdessen mit klaren Gesten zu äußerst dichten Interpretationen. So bekam der gute alte Johannes Brahms eine ordentliche Frischzellenkur verpasst.

Seine Erste Sinfonie - ein Koloss auf Beethovens Spuren - schreitet bei anderen Dirigenten mitunter etwas schwerfällig voran und bekommt dadurch stellenweise eine leicht altväterliche Behäbigkeit. Unter Hardings Händen wirkte sie dagegen kernig, muskulös und jugendlich. Mit schlankem, aber sinnlichem Streichersound und herrlichen Bläsersoli offenbarte das Mahler Chamber Orchestra die Leidenschaft dieser Musik, deren klassische Formenstrenge ja eine starke romantische Hitze birgt und bändigt. Die loderte schon in den expressiven Gesten des Kopfsatzes und entlud sich später, im Finale, mit einer atemberaubenden Steigerung - bei der das Blech kraftvolle, aber niemals brachiale Akzente setzte. So klingt Brahms ohne Bart. Als wäre die Tinte auf den Notenblättern noch gar nicht getrocknet.

Dazwischen formte Daniel Harding immer wieder Inseln von lyrischer Zartheit. Wie im Adagio - mit den einzigen Schönheitsfehlern des Weltklasseabends im nicht restlos geschmeidigen Zusammenspiel von Geige und Klarinette - und beim berühmten Seitenthema des Schlusssatzes. An dieser Stelle, an der viele Paare im Publikum wissende Blicke tauschen, weil sie die Titelmelodie des "Hamburg Journals" erkennen, ertönte keine satt auftrumpfende Gewissheit, sondern ein sanfter Gesang, innig wie ein Liebeslied. Zum Heulen schön.

Dieses Klima kammermusikalischer Intimität trat nach der Pause noch stärker in den Vordergrund. Denn die Dritte Sinfonie von Brahms ringt und kämpft lange nicht mehr so dramatisch wie seine Erste, sie stürmt auch nicht dem Ende entgegen, sondern scheint sich auf leisen Sohlen davonzuschleichen. Schon diese Programmgestaltung, die dem sonst üblichen Schema der lauten Schlussoffensive zuwiderläuft, zeugt, nebenbei bemerkt, von Mut und künstlerischem Ernst.

Harding spürte der bittersüßen Milde der Sinfonie nach: mit der erstaunlichen Weisheit eines früh Gereiften, der bereits mit Mitte 30 auf eine annähernd 20 Jahre währende Karriere zurückblicken kann. Er kostete die fast schon impressionistischen Farbmischungen der Partitur in größter Ruhe aus, ließ die herben Harmonien schimmern und schien dabei mitunter die Zeit anzuhalten - etwa bei den leicht verzögerten Cellolinien im Poco allegretto, deren Aufblühen eine wunderbare kleine Ewigkeit dauerte.

So ein Innehalten kann sich ein Dirigent nur dann leisten, wenn im Orchester jeder Musiker auf der Stuhlkante sitzt und die Spannung so intensiv mitträgt, als wäre er selber ein Solist. Dann glimmt unter einer dicken Schicht herbstlicher Melancholie jene innere Glut, mit der uns Brahms so unnachahmlich das Herz wärmt.