Das Ensemble Modern widmet sich heute Abend im Liebermann-Studio den Ungarn György Ligeti und Márton Illés.

Liebermannstudio. Ungarn, das kleine, pusztastaubige Binnenland, ist jahrhundertelang allenfalls als unterbelichteter Teil der k. u. k. Monarchie zur Kenntnis genommen worden. Wie reich und eigenständig seine Kultur ist, interessierte damals kaum jemanden. Da musste erst ein Béla Bartók kommen, mit Papier und Bleistift, und die ungarischen Volksweisen minutiös festhalten. Er hat ihnen in seinen Werken ein Denkmal gesetzt und sie in die Konzertsäle der Welt getragen.

Bis heute ist Bartók der Fixstern der ungarischen Musik. Ob es der Volkston mit seinem entschiedenen Drive und den oft schrägen Harmonien ist oder die von der ungarischen Sprache geprägte Melodik - Bartóks Einfluss auf seine komponierenden Landsleute ist unüberhörbar. Von Zoltán Kodály, mit dem er Anfang des 20. Jahrhunderts seine Feld- oder besser Dorfforschungen betrieb, bis zu dem gerade mal 35-jährigen Márton Illés. Heute Abend begibt sich die NDR-Reihe "das neue werk" auf eine Spurensuche der besonderen Art: Das Ensemble Modern, eine der führenden Gruppen weltweit für zeitgenössische Musik, spielt unter der Leitung des französischen Dirigenten Franck Ollu Werke von György Ligeti (1923-2006) und dem 1975 geborenen Márton Illés.

Ligetis musikalischer Werdegang ist ähnlich bewegt wie seine Biografie. Als Jude verlor er fast seine ganze Familie durch die Nazis - und flüchtete in den 50er-Jahren vor dem ungarisch-stalinistischen Sozialismus nach Deutschland. Ausgerechnet. Er fand Aufnahme in dem erlauchten Kreis der deutschen, ja westeuropäischen Avantgarde rund um die berühmten Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik. Resistent gegen Vereinnahmung und Indoktrination, wie er war, wurde er nicht nur zum Star, sondern immer wieder auch zum Enfant terrible der Szene.

Wenn eines Ligeti besonders auszeichnete, dann dass er nicht festzulegen war. Hatte sich die interessierte Öffentlichkeit gerade mit einem seiner Richtungswechsel abgefunden, war Ligeti schon längst anderswo. Das Cellokonzert und das Klavierkonzert, die heute mit den Solisten Michael M. Kasper und Ueli Wiget zu Gehör kommen, illustrieren das lebhaft. Zwei Jahrzehnte liegen zwischen der Vollendung der beiden Werke - und musikalisch mehr als eine Welt. Das Cellokonzert aus dem Jahr 1968 gehört noch in den Formenkreis von Ligetis Orchesterwerk "Atmosphères", mit dem der Komponist 1961 das Diktum des seriellen Komponierens über den Haufen geworfen hatte und das als Soundtrack zu Stanley Kubricks Film "2001: Odyssee im Weltraum" ein breites Publikum fand. Die Haltepfosten Melodie, Harmonie und Metrum sind aufgegeben zugunsten einer Klanglichkeit, die wirkt, als ereignete sie sich spontan. Da spannen sich Bögen bis zum Zerreißen, da palavert das Orchester wie eine Schulklasse; Stille und Klang greifen ineinander.

Dagegen scheint sich Ligeti in seinem fünfsätzigen Klavierkonzert auf seinen musikalischen Urahn Bartók zu besinnen. Jazzig-verschobene Rhythmen tauchen hier auf, aber auch Motive, ja sogar klagende Kantilenen.

Auch aus Márton Illés' Entwicklung ist Bartók nicht wegzudenken: Ihm, dem "Riesen", wie er ihn nennt, verdankt Illés den Zugang zur europäischen Kunstmusik. Heute Abend erklingen neben Illés' "Torso III" die Nummern 9 und 16 aus dem Zyklus "Scene polidimensionali", überschrieben "Szintek" und "Körök", zu Deutsch "Schichten" und "Kreise". Die grafischen Titel sind kein Zufall; Illés bezieht seine Inspiration auch aus außermusikalischen Quellen. Das können ein Stadtspaziergang sein, Gesten oder visuelle Elemente.

Die linearen Figuren spielen bei Illés eine wichtige Rolle, ja, sie haben eine selbstständige Funktion: Jede musikalische Linie soll ihrem eigenen Tempo folgen: ein für Illés typisches Verfahren und aufführungspraktisch eine Herausforderung. Aber es muss ja nicht immer alles leicht zu haben sein. Illés' Kompositionslehrer Wolfgang Rihm drückt das so aus: "Márton Illés schreibt eine Musik, in der sich Kalkül und Risiko präzise ausbalanciert die Waage halten."

Márton Illés und György Ligeti heute, 20.00, Rolf-Liebermann-Studio (U Hallerstraße), Oberstr. 120. Karten zu 17,60 unter T. 0180/178 79 80; www.ensemble-modern.de