Eine Bilanz der Filmfestspiele von Cannes zeigt: Die meisten Preise haben in diesem Jahr Genrefilme gewonnen

Cannes. Die wirkliche Überraschung - oder soll man sagen: Sensation - der Palmen-Verteilung in Cannes ist nicht, dass die höchste Ehre an Terrence Malicks "The Tree of Life" ging, den ersten amerikanischen (beinahe) Mainstream-Film, der dort seit "Pulp Fiction" gewonnen hat.

Die eigentliche Überraschung besteht darin, welchen Anteil Genrefilme an den Gewinnern ausmachen. Der Regiepreis fiel an den Dänen Nicolas Winding Refn, der mit Ryan Gosling und Carey Mulligan in "Drive" von einem Stuntpiloten erzählt, der sich als Fluchtfahrer für Überfälle engagieren lässt. Den Jury-Preis erhielt die Französin Maïwenn für "Poliss", worin sie den Alltag einer Pariser Polizeieinheit schildert, die den Missbrauch von Kindern bekämpft; ein äußerst vitaler, mit vielen großen französischen Gesten gespickter Film. Als bester Darsteller wurde der Franzose Jean Dujardin gekrönt, der in dem modernen Stummfilm "The Artist" den größten Gefahren ins Gesicht lacht wie Douglas Fairbanks und tanzt wie Fred Astaire; eine dankbare Rolle, wo kann ein Schauspieler heute noch mit derart ausladenden Gesten operieren wie einst im Stummfilm!

Für die übliche Klientel des Autorenfilms hielten die Wettbewerbsjuroren auch einige Ehren bereit, wenn auch die geringeren. Kirsten Dunst wurde für die beste weibliche Hauptrolle in Lars von Triers "Melancholia" belohnt, auch sie ein vom Mainstream gezeugtes Hollywood-Geschöpf, aber auf dem besten Wege, sich aus dem "Spiderman"-Schatten zu befreien. Mit dem besten Drehbuch fährt der Israeli Joseph Cedar nach Hause, der in "Hearat Shulayim" (Fußnote) die akademische Rivalität zwischen einem Vater und seinem Sohn zum Thema macht.

Nur der Grand Prix blieb die Domäne der alten Cannes-Garde; er wurde geteilt zwischen den Brüdern Jean-Pierre und Luc Dardenne aus Belgien sowie dem Türken Nuri Bilge Ceylan. Die Dardennes, zweimalige Palmen-Gewinner, blieben in ihrem "Le Gamin au vélo" (Der Junge auf dem Fahrrad) ihrem unsentimentalen Realismus treu, obwohl sie sich zum ersten Mal ein Happy End abrangen. Und Ceylan erwies sich im seinem "Bir Zamanlar Anadolu'da" (Es war einmal in Anatolien) erneut als geduldiger Beobachter der türkischen Gegenwart - mit dem Unterschied, dass sich in seiner Story zwei Mordfälle verstecken, möglicherweise.

Überall klare Spuren von Genre also. Auf solch ein Resultat lässt sich hinarbeiten, nicht durch Beeinflussung der Jury, sondern durch ihre Zusammensetzung. Sucht man in ihr Befürworter des Kunstfilms, findet man die Chinesin Nansun Shi, die Argentinierin Martina Gusman, Mahamat Saleh Haroun aus dem Tschad und Liv Ullmanns Tochter Linn aus Schweden. Auf der Genre-Seite stehen die Schauspieler Jude Law und Uma Thurman sowie die Regisseure Johnnie To und Olivier Assayas - und der Jurypräsident Robert De Niro.

Cannes reagiert damit auf die verbreitete Genrisierung des Autorenfilms. Filmemacher hören von ihren Geldgebern seit Jahren das gleiche Mantra: Sie sollen natürlich ihrem Lieblingsthema treu bleiben, dem aber bitte, bitte ein Genremäntelchen umhängen, sei es das des Krimis, des Vampir-, des Western-, des Horror- oder des Science-Fiction-Films. Vielleicht sollte man es als Zeichen der Zeit verstehen, dass jener Wettbewerbsfilm, der in sich so geschlossen war wie kein anderer, sich der Genrepanscherei aber stur verweigerte, bei der Preisverteilung leer ausging: Aki Kaurismäkis "Le Havre".