Der Netz-Navigator führt heute zum linguistischen Stresstest für Worthülsen

World Wide Web. In George Orwells dystopischer Zukunftsvision "1984" werden die Menschen überwacht. Nicht nur in allem, was sie tun, sondern auch in dem, was sie sagen. "Neusprech" heißen die akzeptierten Worthülsen. Sie machen aus einem linientreuen Jasager einen "Gutdenker", aus der jeden bespitzelnden Überwachungsorganisation das "Ministerium für Liebe". Und ein Andersdenkender wird nicht ermordet, seine Daten nicht gelöscht, er wird "vaporisiert".

Doch auch in unserem Alltag wimmelt es von der Verschleierung oder Beschönigung verdächtiger Wortgebilde. Der Linguistik-Professor Martin Haase und der Journalist Kai Biermann stellen in ihrem "Neusprech"-Blog irreführende, zweckentfremdete Begriffe vor und arbeiten ihre tatsächliche Bedeutung heraus. Sie zeigen anschaulich, dass sich hinter harmlos klingenden Wörtern oft etwas ganz anderes verbirgt. Ein militärischer Roboter etwa, der mit einer Schusswaffe ausgestattet wird, ist nicht etwa gefährlich; er hat eine "Wirkfunktion". Die kurzen Texte erklären, kommen aber nie oberlehrerhaft oder moralinsauer daher. Informativ und unterhaltsam schildern Haase und Biermann ihre Beobachtungen, empfehlen auch Alternativen.

"Neusprech" ist für den Grimme Online Award nominiert. Oder, wie es Orwells "Ministerium für Wahrheit" formulieren würde: der Gedankenverbrechen schuldig.

Alternativlos für die sprachliche Handlungsfähigkeit: www.neusprech.org