Véronique Olmi, Schöpferin markanter Frauengestalten, changiert in ihrem Roman “Erste Liebe“ zwischen Romantik und nüchterner Lebensbilanz.

Aix-en-Provence ist ein Ort, an dem die Sinne besonders verwöhnt werden. Emilie wuchs hier in einer besonders unsinnlichen Familie heran, betreute - selbst noch fast ein Kind - ihre behinderte Schwester liebevoll und begegnete Dario, einem Jungen aus wohlhabendem Hause. 30 Jahre ist es her, dass sie in einer einsamen Bucht von Cassis ihre erste Liebe vollendeten. Kurz danach zog die Familie des Jungen in ihre Heimat Genua zurück, und sie hörten nichts mehr voneinander. Bis Emilie ausgerechnet während der Vorbereitungen des Abendessens am Tage ihrer Silberhochzeit mit Marc, mit dem sie drei schon erwachsene Töchter hat, auf eine Zeitungsannonce in der "Libération" stößt: "Emilie, Aix 1976. Komm so schnell wie möglich zu mir nach Genua. Dario." Sie schaltet den Herd aus, schreibt ihrem Mann eine Nachricht, er solle sich nicht beunruhigen, und steigt in Paris in ihr Auto in Richtung Genua. Véronique Olmi, Schöpferin markanter Frauengestalten für die Bühne und den Roman, begleitet Emilie auf der Fahrt. "Erste Liebe" heißt der Titel, der zunächst signalisiert: Vorsicht - Kitschgefahr! Aber gemach.

Die Ich-Erzählerin blättert auf ihrer Fahrt die ganze Banalität und den Überdruss ihres Familienlebens aus. Das rechtfertigt ihr Ausbrechen und macht es auch moralisch vertretbar. Verständlich wird es allerdings erst durch die Erinnerung an die zaghaft begonnene erste Liebe zu Dario. Eine solche Voraussetzung ist für einen Roman heikel; denn wenn die Autorin ihre Leser nicht von der gleichsam immerwährenden Kraft dieser Liebe überzeugt, fällt die Konstruktion des ganzen Buches in sich zusammen. Diesem Fundament, der Besonderheit dieser ersten Liebe, die nicht in ihrer Erstmaligkeit, sondern in ihrer grandiosen Einmaligkeit liegt, widmet die Autorin ihre ganze literarische Kunst. Dario ist eben so ganz anders gewesen als alles, was danach kam. Auch der männliche Leser wird in den Bann dieses Jungen gezogen, der Jahrzehnte später in seinen Aufzeichnungen schreiben wird, Emilie sei das reinste Mädchen, das ihm je begegnet ist, und das am meisten für die Liebe begabte. Tatsächlich findet Emilie die Villa Darios, und es entwickelt sich eine ebenso dramatische wie überraschende Aufklärung, was es mit dem Ruf per Zeitungsanzeige auf sich hat. Es gibt einen tieftraurigen Grund dafür, und die Begegnung mit der ersten Liebe und seiner ihm seit zwanzig Jahren angetrauten Gattin verläuft anders als vorgestellt.

Dabei hatte Emilie auf ihrer Fahrt alle möglichen Szenarien für ihr Wiedersehen durchgespielt, auch schreckliche. Der Plot dieser Liebesgeschichte ist stark und er steht im Kontrast zur Zärtlichkeit der erinnerten ersten Liebe. Aber die Autorin verrät diese Zärtlichkeit nicht, sie gibt ihr noch in der schicksalsbedingten Trostlosigkeit die Weihen des Großartigen. Sie setzt dazu die Eleganz ihres Stils ein, der sie auch befähigt, die grauen, eher lieblosen und kleinlichen drei Jahrzehnte nach dem Schlüsselerlebnis in Cassis als alltägliche Hoffnungslosigkeit darzustellen. Emilie ist keine große, keine heroische Frauengestalt, sondern trägt das gleiche Los wie Millionen andere - nur vor diesem Hintergrund gewinnt eine Generation später die singuläre "erste Liebe" zu Dario diese unwahrscheinliche Gewalt über sie. Und Véronique Olmi gelingt das Kunststück, dass wir so etwas glauben können. Chapeau!

Véronique Olmi: "Erste Liebe" , aus dem Französischen von Claudia Steinitz, Verlag Antje Kunstmann, 284 Seiten 19,90 Euro