In seinem spannend erzählten Debütroman “Swamplandia“ beschwört das amerikanische Erzähltalent Karen Russell die Macht der Fantasie.

Der amerikanische Alligator (Alligator mississippiensis) lebt in großer Zahl im Südosten der USA. Florida-Urlauber werden das wissen. Sie kennen auch die hierzulande exotisch anmutende Freizeitbeschäftigung Alligator-Wrestling, nach der sich Reptilienbändiger damit brüsten können, dass sie ein Krokodil aufs Kreuz gelegt haben. Andere nennen die Sportler lieber Tierquäler. In Swamplandia, dem Vergnügungspark auf einer Insel vor der Küste Floridas, der von der Familie Bigtree betrieben wird, würde das niemand tun.

Die Bigtrees leben, abgeschieden von der Zivilisation des Festlands, in einer Sumpflandschaft, inmitten von Alligatoren. Die sind die Hauptattraktion in "Swamplandia", dem Park und dem Roman, den Karen Russell geschrieben hat. Sie ist einer der jungen Literaturstars in Amerika. Die Familie Bigtree kennt man schon aus ihrem Erzählband "Schlafanstalt für Traumgestörte", der 2008 auf Deutsch erschien. Auf der Parade der Außenseiter, die die 1981 geborene Autorin in ihren Erzählungen auftreten ließ, war die Familie der 13-jährigen Ava Bigtree die aufsehenerregendste Ansammlung von Freaks.

In "Swamplandia" treffen wir sie wieder, und was die Krokodil-Hüter in dem knapp 500 Seiten langen, liebevoll und spannend erzählten Buch erleben, sind mindestens turbulente Abenteuergeschichten - wenn nicht Fantasystorys, die einer Vorstellungskraft entspringen, die so wuchert, sich aufplustert, rauscht und wächst wie die Natur auf der Insel. Dort saugen die Sümpfe Moskitos an, Zypressen wechseln sich mit Sägegrasprärien und Mangrovenwäldern ab, und manchmal begegnet der Leser auch einer Palme.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht Ava, die nach dem Krebstod der Mutter plötzlich auf sich allein gestellt ist. Hilola Bigtree war der Star Swamplandias. Sie sprang in Wasserbassins voller Krokodile und rang diese nieder. Nach ihrem traurigen Ende bleiben die unterhaltungssüchtigen Festländer plötzlich weg, der Vergnügungspark steht vor der Schließung. Die Familie steht unter Schockstarre, weil ihr Paradies bedroht ist. Der demenzkranke Großvater ist der Erinnerungen an das Leben auf der Insel bereits verlustig gegangen, er fristet sein Dasein in einer Pflegeklinik. Sein Leiden lässt die große Zeit der Familienhistorie auf den Grund des Vergessens hinabsinken.

Seine Enkel wollen nicht vergessen, sie kämpfen um die Zukunft und den Zusammenhalt der Familie. Besonders Ava. Während Bruder Kiwi das Weite sucht und auf dem Festland in einem Amüsierbetrieb und Entdeckungspark namens "Welt der Finsternis" anheuert, um die Finanzen der Familie aufzubessern, verliebt sich Avas Schwester Ossi in einen Geist. Dieser verstorbene Louis Thanksgiving ist eine Fantasiefigur, die sich Ossi ausgedacht und in spiritistischen Sitzungen gedatet hat, und der sie in den Sümpfen nachjagt: auf der Suche nach der ersten großen Liebe.

Weil auch Vater und Familienhäuptling "Chief" Bigtree - die Abkunft von den Indianern ist imaginiert, eine schöne Legende - sich ums Geldverdienen in der Küstenstadt Loomis kümmert, ist nur noch Ava da, um die Schwester vor ihren Illusionen zu retten. Und so geht auch Ava in die Sümpfe, begleitet von einem geheimnisvollen und zwielichtigen "Vogelmann", um ihre Schwester in der "Unterwelt" zu finden.

Die Unterwelt ist der Ort, an dem die Toten leben; hier will die liebeskranke Ossi ihren Louis Thanksgiving erlösen. Auch Ava erliegt der Anziehungskraft des Geschichtenausdenkens und dramatischen Aufladens der Landschaft. Der Böses im Schilde führende Vogelmann macht sich dies zunutze und lockt das Mädchen in eine Falle.

"Er hatte es geschafft, diese Einöde als einen Ort voller Magie hinzustellen", resümiert Ava, nachdem sie sich seinen Fängen entwunden hat. Indem Russell ihre Heldinnen in ein Fantasiereich eintauchen lässt, befleißigt auch sie sich der Vogelmann-Methode, es ist die des magischen Realismus. Dessen Verschmelzung von Realität und Einbildung ähnelt den fantastischen Motiven des Märchens, in dessen Tradition sich Russell bewegt.

Ava ist eine "Alice im Wunderland", sie wandert staunend durch eine Traumwelt, die bösartiger und härter ist als die Lewis Carrolls. Denn wo Alice mit weißen Kaninchen zu tun hat, kämpft Ava mit Krokodilen - unter anderem. Die märchenhafte Wiedervereinigung der Familie beschließt eine Coming-of-Age-Geschichte: Während die männlichen Familienmitglieder (vor allem Kiwi, aber auch der Vater, dessen Autorität verloren geht) in der Zivilisation ihren Mann stehen mussten, verloren die (jungen) Frauen in der Naturwelt ihre Unschuld. Die Symbolik ist überdeutlich, das Talent Russells auch.

Karen Russell: "Swamplandia". Übers. v. Simone Jakob, Verlag Kein & Aber, 508 S., 22,90 Euro