Wie das Grafikdesign des Jugendstils vor 100 Jahren den Alltag veränderte, zeigt nun eine Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe.

Hamburg. Es war ein Aufbruch und zugleich eine Befreiung. Nach Jahrzehnten, in denen sich Architekten, Designer und Grafiker fast ausschließlich an den historischen Stilen orientiert hatten, wagten sie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhunderts europaweit etwas völlig Neues. Nicht mehr Formen und Ornamente von Gotik bis Barock, sondern völlig neue Motive, Bildideen und Linien, die vor allem floralen Vorbildern entlehnt waren, bestimmten eine Kunstepoche, die in Frankreich Art Noveau und in Deutschland Jugendstil genannt wurde.

"Grafikdesign im Jugendstil. Der Aufbruch des Bildes in den Alltag" heißt eine Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe, die ab Freitag mehr als 350 grafische Werke wie originale Plakate, Postkarten, Briefbögen, Geschäftskarten, Buchtitel und -illustrationen zeigt. Es ist das Panorama einer großartigen Kunstära dokumentiert, die sich an ihrer eigenen Kreativität berauschte und mit dem Anspruch antrat, das Leben durch Kunst zu veredeln und zu verschönern.

Eleganz, Leichtigkeit und eine überraschende, raffinierte, oft kühne Formensprache bestimmten die vielfach farbigen Geschäftsgrafiken, die nun mit modernen Reproduktionstechniken vervielfältigt werden konnten und professioneller waren als im vorangegangenen Historismus. Natürlich gab es Kritik daran, dass seit etwa 1895 immer mehr farbige Drucke - etwa auf Plakaten, Werbezetteln oder Produktverpackungen - in die Alltagswelt eindrangen. Konservative Bedenkenträger warnten in den USA vor einer "Chromo Zivilization" (Farben-Zivilisation), die zwangsläufig eine allgemeine Oberflächlichkeit zur Folge haben müsse.

Das Gegenteil war der Fall: Wer durch die trotz der Überfülle der ausgestellten Werke angenehm klar und übersichtlich anmutende Schau flaniert, ist immer wieder erstaunt über die raffinierten, ästhetischen, oft auch humorvollen und anspielungsreichen Bildideen. Entworfen und umgesetzt wurden sie von Stars wie Henri de Toulouse-Lautrec, Alfons Mucha, Henry van de Velde, aber auch völlig unbekannten Künstlern wie dem zeitweise in Hamburg lebenden Schriftgestalter Max Salzmann. Viele begabte Absolventen von Kunstgewerbeschulen spezialisierten sich auf das Grafikdesign, das in der Zeit um 1900 immer mehr an Bedeutung gewann.

Wenn Firmen in Zeitschriften wie dem renommierten "Simplicissimus" Anzeigen schalteten, wurden diese von einem dort angestellten Zeichner gestaltet, denn eine Corporate Identity gab es bis ins späte 19. Jahrhundert noch ebenso wenig wie professionelle Werbeagenturen. Doch in der Jugendstil-Ära änderte sich das. Van de Velde entwickelte 1898 für den Lebensmittelhersteller Tropon die erste Corporate Identity, und Peter Behrens lieferte einige Jahre später entsprechende Entwürfe und Bildstrategien für die AEG.

"Dass das Museum für Kunst und Gewerbe heute über eine der weltweit bedeutendsten und größten Sammlungen an Gebrauchsgrafik des Jugendstil verfügt, verdanken wir dem Gründungsdirektor Justus Brinckmann", sagt seine heutige Nachfolgerin Sabine Schulze. Im Jahr 1900 war Brinckmann zur Pariser Weltausstellung gereist, wo er - begeistert von der in Frankreich bereits weitverbreiteten Art Noveau - die Sammlungsprinzipien seines Hauses kurzerhand änderte. Von jetzt an sollte es nicht mehr nur um die großen Leistungen der Vergangenheit gehen, sondern auch um die so aufregende neue angewandte Kunst, das neue Design, entschied Brinckmann. Folgerichtig erwarb er mit dem damals noch üppig ausgestatteten Ankaufsetat in Paris viele Spitzenstücke, die heute den Grundstock der hochbedeutenden Hamburger Jugendstil-Sammlung bilden.

Jürgen Döring, Grafikexperte des Museums für Kunst und Gewerbe, hat nicht nur die Ausstellung kuratiert, sondern auch in mehrjähriger Arbeit den gesamten Jugendstil-Bestand wissenschaftlich bearbeitet. Jetzt liegt der Bestandskatalog vor, ein mehr als drei Kilo schwerer großformatiger Prachtband mit 512 Seiten und mehr als 1200 Abbildungen, von denen etwa 70 Prozent nie zuvor publiziert worden sind. Der Katalog, der nur dank der Unterstützung der "Zeit"-Stiftung und der Ernst-von-Siemens-Kunststiftung realisiert werden konnte, wirft ein Licht auf einen wichtigen Aspekt der Museumsarbeit, der in der Öffentlichkeit sonst kaum bemerkt wird: Die Erforschung und Dokumentation der eigenen Sammlung, wie sie hier geleistet wurde, ist keine trockene wissenschaftliche Buchhaltung, sondern bringt die im Lauf von Generationen gesammelten Schätze des Hauses dem interessierten Publikum nahe und erzählt mit sachkundigen und gut formulierten Aufsätzen außerdem ein faszinierendes Kapitel europäischer Kunstgeschichte.

Grafikdesign im Jugendstil . Der Aufbruch des Bildes in den Alltag. Museum für Kunst und Gewerbe. 20.5.-28.8., Steintorplatz, Di-So 11.00-18.00, Do 11.00-21.00. Der Bestandskatalog ist im Hatje Cantz Verlag erschienen und kostet 68 Euro.