Das Rap-Kollektiv “Odd Future Wolf Gang Kill Them All“ aus Los Angeles macht sich daran, den Hip-Hop neu zu erfinden. Und das mit Erfolg.

Berlin. Auf einmal drückt sich da jemand aus dem Publikum heraus und betritt die Bühne: Es ist Tyler, The Creator, auf ihn haben sie gewartet. Sie brüllen seinen Namen, The Creator, sein Name ist Omen an diesem Abend, hier wird etwas Neues kreiert - hier beginnt gerade die Zukunft des Hip-Hop.

Draußen vor dem Klub werden die letzten Tickets gehandelt. Schwarzmarktpreise, fast zehnmal so hoch wie der nur wenige Stunden dauernde Vorverkauf. Die Berliner Kids haben zwar keine Karten. Doch irgendwie kommen sie trotzdem rein - wen interessieren Regeln, wenn man Zeuge werden kann, wie die Gesetze der Popkultur in nur einem Konzert zertrümmert werden?

Es ist ein Freitag in Berlin, der erste und einzige Deutschland-Auftritt des amerikanischen Rap-Kollektivs mit dem wohl sperrigsten Namen aller Zeiten: Odd Future Wolf Gang Kill Them All. Doch deren Mitglieder kommen nicht über einen abgesperrten Seiteneingang auf die Bühne. Sie kommen direkt aus der Menge, junge Leute, alle um die 20, schweißnass und wild, grenzüberschreitend, umjubelt und mehr Punk als die meisten Punk-Acts. Reißen sich die T-Shirts herunter; muskulöse, vernarbte und tätowierte Körper kommen zum Vorschein, immer aggressiv, immer in Bewegung. Dunkel brodelnde Beats pumpen aus den Boxen. Pausenlos stürzen sich die Rapper von der Bühne in die Menge. Abklatschen mit den Fans, verschwitzte Köpfe drücken aneinander. Es fühlt sich an, als sei man mitten im Untergrund, irgendwo direkt an der brodelnden Quelle des Hip-Hop.

Das 2007 gegründete L.A.-Kollektiv besteht aus zehn Künstlern zwischen 17 und 23, die englische Musikzeitschrift "New Musical Express" bezeichnete Odd Future jüngst als den "ultimativen Anti-Establishment-Act". Sofort schießen einem Vergleiche mit anderen bedeutenden Rap-Possen durch den Kopf: der Wu-Tang Clan und NWA - doch dagegen sperren sich die Künstler von Odd Future und sind da wenig verblümt: "Fuck them, we are different." Überhaupt hasst die Gruppierung aus Rappern, Produzenten, Visual Artists und Skatern alles und jeden. Nichts ist heilig. Musik-Kritiker und Blogger werden mit einem Dreizack (eine Anspielung auf die Plattform Pitchfork Media) erstochen, Gott abgeschworen, stattdessen stilisiert sich Tyler, The Creator selbst zum Teufel oder zu einem Dämonen im Menschenkörper. Dessen Sound-Ästhetik ist roh und zum Glück weit entfernt von den typischen Fett-Bässen, Elektrotendenzen, Autotunes und überholten Handclap-Einlagen der Charts. Odd Future ist kein reiner Hip-Hop-Act, sondern ein kreatives Selbstmach-Kunstwerk, um das sich Hipster, Hip-Hopper, Punks und Indie-Kids gleichermaßen reißen.

Neben einigen Singles werden auch die Alben der Odd Future-Mitglieder auf ihrem Blog umsonst zum Download angeboten. Vor allem "Yonkers", diese unglaubliche Single mit dem millionenfach angeklickten Video, schlug hohe Wellen. Weil sie alles war, was Hip-Hop die letzten 15 Jahre vermissen ließ: dunkel, böse, künstlerisch und mutig. Ein Schwarz-Weiß-Video mit nur einer Kameraeinstellung und einem krassen Spiel aus Schärfe und Unschärfe. Tylers Stimme so tief wie ein Bass. Kakerlaken auf der Hand des Rappers. Er isst sie. Er übergibt sich. Er erhängt sich. Der Song hat nicht mal einen Refrain.

Die Texte der Odd Future Wolf Gang sind voller Exzess, Gewalt, Drogen, erfrischender Unmoral und Ironie. Dabei umschiffen die Musiker die Rap-Klischees des Gangsters, Pimps, Hustlers oder - einmal zu Geld gekommen - superreichen Alphamännchens. Die Hip-Hop-Themen der letzten Jahre sind einfach zu benennen: sexuelle Verfügbarkeit der "Bitches", Goldketten und absurd getunte Autos. Odd Future negiert auch das. In dem Song "Yonkers" stellt Tyler dezidiert klar: "Fuck money, diamonds and bitches, I don't need them." Er hat andere Themen, man hört sie auf seinem Debüt-Album "Goblin". Die Depressionen zum Beispiel, die sich aus Tylers hormonell übersteuertem Teenager-Dasein speisen, der verhasste Vater, der die Familie verlassen hat, und schließlich auch die Reflexion über den eigenen Hype.

Statt Bling-Bling-Proleten tummeln sich in Tylers Stücken morbide, zertrümmerte Charaktere, immer an der Grenze zur dysfunktionalen Persönlichkeit. Der authentische Gehalt der Texte liegt verschleiert in diesem Durcheinander aus künstlerischer Sinnfreiheit und emotionaler Relevanz. Die "Süddeutsche" attestierte Odd Future vor Kurzem die Beherrschung des Maskenspiels wie einst Miles Davis, Bob Dylan oder Mohammed Ali.

Beim Konzert sind es jedoch vor allem die provozierenden Parolen, die zünden: "Kill People. Burn Shit. Fuck School" heißt es in Tyler, The Creators Stück "Radicals". Als das Publikum diese Sätze am Ende der Show wie besessen herausschreit, lädt Odd Future die Fans kurzerhand ein, die Bühne zu stürmen. Wen interessiert die Security. Die Fans feiern minutenlang auf der Bühne, bis sich Odd Future von den Fans direkt vor den Backstageraum tragen lässt, um dort zu ruhen. Und Ruhe brauchen die jungen Amerikaner jetzt. Der große Sturm wird erst noch kommen.

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