Glacier (of Maine) heißt das Soloprojekt von Tocotronic-Musiker Rick McPhail – mit Songs voller Gefühle, Sehnsüchte und Widersprüche

Hamburg. Rick McPhail lädt zu sich nach Hause ein. Das ist nichts Neues. Das hat er bereits zu Interviews mit seiner Band Tocotronic getan. Vor gut einem Jahr etwa, als das Quartett die Platte "Schall und Wahn" veröffentlichte. "Deutschlands beste Band" titelte der "Rolling Stone" damals.

Jetzt, an einem kalten Frühlingsvormittag, will McPhail von seinem Soloprojekt erzählen, Glacier (of Maine). Und von der neuen zweiten Platte, die den Titel "Above And Beside Me" trägt. Epische, melancholische, sehr schöne Rocksongs sind darauf zu hören, die der 40-Jährige bewusst ohne Plattenfirma veröffentlicht hat. Und wer sich mit McPhail unterhält, der versteht schnell, dass all das zusammenhängt: die Traurigkeit seiner Lieder, der Eigenvertrieb, die Gespräche in den eigenen vier Wänden. Das alles sind letztlich Formen, sich zu verweigern. Dem Diktat guter Laune, den Mechanismen der Musikbranche, der Anonymität.

Ein Hinterhaus in Altonas Hinterland. Durch die Gegensprechanlage ertönt ein "Hallo". McPhails amerikanische Wurzeln sind bereits in diesem einen Wort hörbar. Im ersten Stock erscheint er hinter einer Stahltüre. Kariertes Hemd, Jeans, Stoffschuhe, freundliches Lächeln unter rausgewachsenem Pilzkopf. Der Weg führt durch einen großen hellen Raum. Ein Skateboard, ein Kinderstuhl, eine Sitzecke. "Da hinten kann ich rauchen", sagt McPhail und führt durch eine schmale Tür ins Studio, vorbei an Instrumenten und Effektgeräten, bis in den kleinen Regieraum, der die Mischpulte für die Aufnahme beherbergt.

McPhail steckt sich eine Zigarette an. "Dann raucht Thees Uhlmann bestimmt auch noch", denkt man sich. Die innere Referenzmaschine, sie spuckt unweigerlich dieses Stück aus dem Jahr 2000 aus, den "Rick McPhail Song", mit dem Tomte-Sänger Uhlmann seinem Kollegen ein Denkmal setzte. Inklusive der Zeile: "Ich rauche, solange Rick McPhail raucht". Vier Jahre bevor er als Keyboarder und Gitarrist festes Mitglied bei Tocotronic wurde, war der Musiker den Hörern als Protagonist des Pop also schon bestens vertraut. "Ach, Du bist Rick McPhail", hätten die Leute dann gesagt. "Ich war sofort unter Druck, was Kluges oder Lustiges zu sagen. Als das Lied rauskam, habe ich kurzzeitig aufgehört auszugehen", wird McPhail später erzählen. Doch zunächst erklärt er, warum er trotz der guten Tocotronic-Kontakte auf den Rückhalt eines Labels verzichtet.

"Ich habe früher schon eigene Platten selbst herausgebracht. Jetzt wollte ich einfach ausprobieren, ob sich die Zeiten mit dem Internet wirklich so geändert haben." Ob sich also die Vertriebswege derart abkürzen lassen, dass sich die oft langwierigen Prozesse in einer Plattenfirma umgehen lassen. Für einen "kleinen Act", wie McPhail sein Projekt bezeichnet, bedeutet das in der Praxis: Jeder, der sich für die Songs interessiert, kann sich per Mail melden, und McPhail schickt persönlich einen Mp3-Link zurück. Diesem Do-it-yourself-Prinzip wohnt der Geist des Punk inne. Allerdings keiner, der sich über laute Zeichen manifestiert. Sondern einer, der die Selbstbestimmung sucht.

McPhail drückt seine halb gerauchte Zigarette aus. Der Aschenbecher steht auf einem Drehstuhl. Wer darauf sitzt, schaut durch eine Scheibe hinüber in den Aufnahmeraum. Hier hat McPhail "Above And Beside Me" live eingespielt. Gemeinsam mit Sven Janetzko an der Gitarre, Stefan Nielsen am Bass, Catharina Ruess am Piano, ihrem Bruder Benny am Schlagzeug sowie Sunny Vollherbst an den Reglern. Und in diesen Räumen, in denen früher die Hip-Hopper Fettes Brot wirkten, produziert er auch selbst.

McPhail ist kein Schrammelmusiker, sondern geschult. Im Orchester in seiner alten Heimat, dem Örtchen Old Orchard Beach in Maine hoch oben im Nordosten der USA, war es als Kind selbstverständlich, Noten vom Blatt zu lesen. Da musste er mitunter die Geduld aufbringen, 40 Takte zu warten, bis sein Einsatz als Perkussionist kam. Eine Ruhe, die ihm heute hilft, Arrangements fein zu justieren. Andererseits legte er damals im elterlichen Wohnzimmer impulsive Elvis-Einlagen hin. So, wie sein achtjähriger Sohn Caspar jetzt auch schon mal Tocotronic-Songs auf einer Party der Großen imitiert.

In McPhails Songs hallt es nach, dass er in der Enge der Reagan- und Bush-Ära aufwuchs. Dass er sich fremd fühlte in der eigenen Stadt, wenn im Sommer die Touristen kamen. Dass er, "um sich aufzuwärmen", nach San Francisco zog, sich dort aber mit der Gewalt und dem Heroin-Schick der 90er konfrontiert sah. Seine Texte erzählen von Sehnsüchten, von Widersprüchen. "The code is blue" lautet ein Vers. Das passt zu dem Schreiben, das mit der Platte kam. McPhail spiele den Blues, heißt es. Nicht im Coltrane-Sinne. Aber er wolle eben keine rosigen Bilder unserer Welt malen. "Man hört immer von der Industrie und den Radiosendern, dass keiner traurige Musik hören will. Das ist totaler Bullshit. Ich glaube, Menschen haben mehr als eine Emotion", sagt McPhail. Die halb gerauchte Zigarette steckt er sich nun wieder an. Der Hemdärmel rutscht hoch, am Handgelenk trägt er eine Donald-Duck-Uhr.

McPhail ist kein Spaßbefreiter. Aber er vertritt (und vertont) die Philosophie, dass frontaler Frohsinn als einziges Angebot letztlich unglücklich macht, da so alle anderen Gefühle auf der Strecke bleiben. Düstere Bands wie Rammstein und Unheilig seien zwar nicht sein Ding. Aber, so meint McPhail: "Wieso werden die erfolgreich? Weil die Menschen eine dunkle Seite haben, die sie bedient haben wollen."

Was ebenfalls fehle, sei politischer Pop. Deshalb hat er mit "Flanders Revisited" auch ein Anti-Kriegs-Lied geschrieben. "Für viele Deutsche ist das kein Thema, obwohl die deutschen Truppen auch in Afghanistan sind." McPhail, da zeigt sich der Idealist, appelliert an die Liebe. "Man hat das Gefühl, dass viele Leute nicht mehr in der Lage sind, so etwas wie Empathie zu spüren, dass sie apathisch werden", sagt er und drückt die Zigarette ganz aus.

Dass McPhail hingegen die Qualität besitzt, mit Menschen freundlich, aber nicht oberflächlich oder anbiedernd umzugehen, nutzte ihm gewiss auch, als er 1993 nach Deutschland zog. Über Wuppertal und Köln kam er nach Hamburg und spielte in verschiedenen Bands. Wenn er sagt, "ich hatte noch nie ein Problem, Leute schnell kennenzulernen", glaubt man ihm sofort. Aber dieses Kennenlernen geschieht eben nicht im Stil eines überambitionierten Netzwerkers, der Visitenkarten sammelt wie Trophäen. Sondern persönlich. Rick McPhail ist einer, der Menschen zu sich nach Hause einlädt.

Die Mail-Adresse zur Musik von Glacier (of Maine): info@glacier-music.com