Ein gigantisches, ein obsessiv-grandioses Werk: 1997 setzte Peter Kurzeck mit "Übers Eis" zu einer autobiografischen, "Das alte Jahrhundert" überschriebenen Chronik an, die sich nach und nach ausweitete. Der über 1000 Seiten umfassende fünfte Teil "Vorabend" nimmt seinen Anfang im Herbst 1983. Der von Existenzsorgen geplagte Ich-Erzähler Peter lebt mit Freundin Sibylle und der vierjährigen Tochter im Frankfurter Stadtteil Bockenheim und schreibt unbeirrbar an seinen Romanen. "Die ganze Gegend erzählen, die Zeit" - so lautet das selbstbewusste Motto, das Kurzeck mit raffinierten Erzähl- und Wiederholungsstrategien realisiert.

Die scheiternde Beziehung zweier nach Südfrankreich ausgewanderter Freunde bietet den Anlass, eine Zeitreise in die Sechziger- und Siebzigerjahre zu unternehmen, mitten hinein in die hessische Provinz. Dort, so der Rahmen, hebt Peter zu einem endlos scheinenden Nachmittagsmonolog an, der in immer neuen Spiralen die Vergangenheit einkreist.

Es geht um eine im Nachhinein unheilvoll wirkende Epoche, als die Segnungen des Wirtschaftswunders jeden Landstrich erreichten und der ökonomische Fortschritt als ein einziges Glück erschien. In wunderbaren Detailbildern hält Peter Kurzeck die Mentalität jener Jahre und die allerkleinsten vom Kapitalismus fortgefegten Dorfwinkel und Feldwege fest. Er schreibt aus einer Erfahrung des Verlustes heraus, und nicht nur zwischen den Zeilen wird deutlich, wie ihn die Zerstörung des Althergebrachten schmerzt. Es ist die Ära eines folgenschweren Umbruchs, als aus holprigen Chausseen Bundesstraßen werden, wo Igel und Frösche elend krepieren, als sich die ersten Supermärkte auf den bald nicht mehr grünen Wiesen ausbreiten, als Neubausiedlungen mit scheckheftgepflegten Autos davor entstehen und die Butter noch "gute Butter" genannt wird. Schritt für Schritt konturiert Kurzeck ein Zeitgemälde proustschen Zuschnitts.

Deutscher Buchpreis, Georg-Büchner-Preis - keine Ehrung wäre unangemessen für diesen Roman, für diesen Autor.

Peter Kurzeck: Vorabend. Stroemfeld Verlag, 1017 Seiten, 39,80 Euro In "Aufgeblättert" stellen im Wechsel Rainer Moritz, Annemarie Stoltenberg (NDR) und Wilfried Weber (Buchhandlung Felix Jud) Bücher vor.