Der Dichter Matthias Politycki hat die englische Metropole erforscht. Heute Abend stellt er seinen speziellen London-Reiseführer im Jenisch-Haus vor

Jenisch-Haus. Dem britischen Romantiker Percy Bysshe Shelley wird folgende Aussage zugeschrieben: "Die Hölle ist eine Stadt, sehr ähnlich London - eine volkreiche und eine rauchige Stadt. Dort gibt es alle Arten von ruinierten Leuten. Und dort ist wenig oder gar kein Spaß, wenig Gerechtigkeit und noch weniger Mitleid."

Dieser fulminante London-Verriss stammt aus dem Jahre 1839 und wird genüsslich zitiert im formidablen neuen London-Band aus dem Hause Corso. Die Hamburger machen inzwischen im zweiten Jahr unter dem Credo "Willkommen woanders" ein feines Reiseliteratur-Programm, das vor allem eine Vorgabe beherzigt: nicht so zu sein wie ordinäre Reisebücher mit all ihren Sightseeing-Tipps.

Und weil dem so ist, sind die Corso-Reisemagazine in Buchform auch mal charmante Ausweise weltmännischer Rotzigkeit. London ist eben nicht der Himmel auf Erden, das sagt auch die Wieder-Londonerin Laura Cooke, die in "London, Signale aus der Weltmaschine" (157 S., 24,95 Euro) wie folgt zu Wort kommt: "Ich hasse London, wenn die Leute rennen. Rennen, rennen, rennen - zu den Zügen, U-Bahnen, Bussen, die immer zu spät kommen." Ihre Beobachtungen decken sich grob mit denen von Matthias Politycki. Der Hamburger Schriftsteller ist in dieser literarischen Saison so etwas wie unser Mann in London. Politycki, 55, verbrachte drei Monate als writer in residence in der englischen Hauptstadt. Im Corso-Band fungiert er als Gastgeber und leitet die Texte von beispielsweise Stefan Tobler (der die Außenquartiere der Metropole durchwandert) und Eike Schönfeld (der die schmucklosen, aber liebenswerten Caffs besucht) ein.

Auch Politycki flaniert durch die Straßen der seltsam einmaligen Stadt, in der man keine Ruhe findet. Alle sind in Eile, man muss "weiter! und weiter!", sagt Politycki und rast mit. Jeder Stadtteil erschließt dem Besucher eine andere Welt, die Quartiere changieren irgendwo zwischen Parallelgesellschaft (wie im multikulturellen East End) und Nobelviertel (wie in Notting Hill).

Es ist schwierig, sich in London zu orientieren, weil es kein Zentrum gibt. Alain de Botton mokiert sich über die Unübersichtlichkeit und die architektonischen Zumutungen, deren man in London allenthalben ansichtig wird.

Politycki gibt in einem zweiten Buch, das sich mit der ehemaligen Hauptstadt der Welt beschäftigt, eine flüssig geschriebene Orientierungshilfe: "London für Helden" (Hoffmann und Campe, 96 S., 18 Euro). Die Londonstudien des vielfach preisgekrönten Dichters erschöpften sich nicht darin, Stadt und Leute per pedes und in der U-Bahn zu erfahren. Sie wurden vielmehr auf dem "Ale Trail" vorgenommen, zu Deutsch: dem "Bierpfad". "Ale" wird in Großbritannien synonym für "beer" verwendet. Politycki ist, zusammen mit trinkfesten oder wenigstens auf bitter gepolten Verköstigungswilligen, von Pub zu Pub gezogen, um sich heldenhaft der englischen Plörre zu stellen. "Ich bin die Bierhure,/sagte mein Gastgeber, ich geh mit jedem/auf der Stelle eins trinken/wann immer, wo immer, hab keine Angst", so leitet das lyrische Ich die Kneipentour in Versform ein. Um wenig schmeichelnd fortzufahren: "Wir begannen natürlich/mit 'nem Royal London ,/das offensiv malzig, /im Abgang nach altem Feudel schmeckte".

Ja, so ist das mit anderen Ländern und deren Trinksitten. Man muss halt über den Kampf zum Spiel finden, dann läuft irgendwann auch das Ale.

Das "kulinarische Rahmenprogramm", das der Corso-Verlag (in Zusammenarbeit mit dem Louis C. Jakob) heute Abend bei der Vorstellung seines London-Buchs seinen Gästen bietet, dürfte die Gaumen jedenfalls mehr verwöhnen als britischer Gerstensaft.

London-Lesung mit Matthias Politycki und Rainer Groothuis. Heute, 19.00, Jenisch Haus (S Klein Flottbek), Eingang Baron-Voght-Straße. Eintritt 45,- inkl. Verköstigung. Reservierung: T. 82 25 54 72