Beim Festival “Türkische Nächte“ spielt Kudsi Erguner die Ney - ein Flöteninstrument aus Schilfrohr, mit Jahrhunderte alter Tradition.

Hamburg. Die Ney ist nur ein Schilfrohr mit sieben Grifflöchern, auf Hochglanz poliert und an den Enden mit Messing eingefasst. Aber Kudsi Erguner hat das Gerät in seinem Instrumentenkoffer trotzdem mit zwei Zahlenschlössern gesichert. Der Materialwert seiner Flöte dürfte sich zu dem einer Stradivari etwa so verhalten wie der eines von einem anatolischen Maulesel angetriebenen Fuhrwerks zu dem eines Maseratis. Doch wenn Erguner das Instrument an den Mund setzt und mit etwas schräger Kopfhaltung in das große Loch zu blasen beginnt, dann bringt er eine Musiktradition zum Klingen, die schon viele Jahrhunderte existierte, bevor Herr Stradivari überhaupt das Licht der Welt erblickte.

Der Vergleich des orientalischen Instrumentariums mit dem des Westens mag plakativ sein. Er führt aber ins Zentrum des Konzerts, das Erguner heute in Hamburg im Rahmen des Festivals "Türkische Nächte" geben wird. Für sechs Instrumentalisten, zwei Muezzin-Sänger und einen Sprecher hat Erguner Texte aus Goethes Gedichtzyklus "West-östlicher Diwan" vertont - und zwar komplett alla turca, also gefühlte Lichtjahre entfernt von Liedvertonungen aus Klassik oder Romantik.

Das Dichterwort "Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen" nimmt Kudsi Erguner sehr genau. Jede Silbe wird zur arabesk verzierten Melisme, in der viele, viele Töne vergehen, ehe die nächste Silbe, das nächste Wort folgt. Bei einer Probe mit dem Ensemble, das nur gelegentlich zu Aufführungen zusammenkommt, fragt Erguner, der das Ney-Spiel in dritter Generation pflegt, ob der Text für Muttersprachler verständlich herüberkomme. Das tut er nicht, der Gesang von Halil Necipoglu und Yunus Balcioglu klingt nach orientalischem Gebetsruf, nicht nach Heideröslein. Aber Goethe hätte es geliebt.

"Die Türkei will Europa immer beweisen, wie europäisch sie doch sind", spottete Kudsi Erguner kürzlich in einem Interview. "Ständig treten auf Festivals türkische Pianisten auf, die Mozart spielen, oder türkische Pop-Musiker werden in der Vitrine ausgestellt, gar nicht zu sprechen von den Techno-Sufis ... Ich frage mich: ist von unserer Vergangenheit, unserer Zivilisation nichts mehr übrig geblieben?"

Dass Kudsi Erguner die Einladung nach Hamburg eben jenem Mozart spielenden türkischen Pianisten Fazil Say verdankt, der am Sonnabend auch den "Techno-Sufi" Mercan Dede präsentieren wird, gibt den "Türkischen Nächten" eine anregende aromatische Schärfe. "Die Türkei wurde vor ungefähr 100 Jahren massiv in die Modernität gezwungen", sagt Kudsi Erguner. "Auf dem Wege dieser radikalen Verwestlichung hat sie ihre Tradition verloren. Ihre Kontinuität ist dahin, und die ist durch nichts zu ersetzen."

Türkische Musik ist, wie die übrige arabische und viele andere außereuropäische Musik, modal, also melodisch orientiert. Sie lebt von Skalen über einem gleich bleibenden Grundton und nicht von der Funktionsharmonik mit ihren wechselnden, aufeinander bezogenen Akkorden. "In unserer Musik gibt es pro Oktave 41 unterscheidbare Zwischenstufen, in der des Westens zwölf Halbtöne. Heute spielen die Drei- und Vierjährigen auf dem Klavier, das diese Unterscheidungen naturgemäß nicht hat. Die temperierte Stimmung zerstört die alte arabische Kultur der Melodie!"

Wer sich dazu einen verbitterten Traditionswahrer denkt, liegt falsch. Kudsi Erguner ist so etwas wie ein extrem toleranter Fundamentalist. In seiner musikalischen Welt soll jeder nach seiner Fasson selig werden.

Kudsi Erguner & Ensemble, heute 20.00, Kulturkirche Altona (S-Bahn Holstenstraße) Max-Brauer-Allee 199, Karten (21,- bis 29,-) unter T. 35 76 66 66 und an der Abendkasse