Die Schauspielerin Ursula Karven kann mehr als Pilcher-Schmacht - wie sie in “Stille Post“ beweist

Diese Rolle sei die wichtigste ihrer Karriere, hatte Ursula Karven auf der Pressekonferenz zu "Stille Post" im April in Hamburg behauptet. Große Worte - an die sich gleich mehrere Fragen reihen, mal ganz abgesehen von der, ob es sich hierbei nur um eine höfliche Schauspielerfloskel handelt. Ist das den Vorgängerfilmen geschuldet, von denen keiner aus der Masse heraussticht und im Gedächtnis bleibt? Oder der Außerordentlichkeit der neuen Rolle?

Im Fall von Ursula Karven liegt die Antwort irgendwo dazwischen. Besser gesagt: in ihrer Filmografie, die man vielleicht am ehesten als durchwachsen beschreiben kann. Oder besser: als sehr mittelmäßig, ein Querschnitt deutscher Fernsehunterhaltung von "Ein Fall für Zwei"-Krimikost bis "Dornen im Tal der Blumen"-Seichtigkeiten. Als Sidekick von Hamburgs Ex-"Tatort"-Ermittler Robert Atzorn musste sich die 45-Jährige jahrelang von einem überflüssigen Auftritt zum nächsten hangeln. Staatsanwältin Wanda Wilhelmi war so aufgesetzt wie ihr Name.

Anders in dem von Network Movie Hamburg für den NDR produzierten Drama "Stille Post" (Redaktion: Doris J. Heinze - wann ist eigentlich Schluss damit?). Hier darf Karven einmal sein, wie es im deutschen Konsensfernsehen nicht gerne gesehen wird: widersprüchlich, verwirrt, inkonsequent. Eine Frau, an der das Komplizierteste nicht ihre Frisur oder die Knopfleiste der Bluse ist. Andrea Jahn ist Lehrerin einer elften Klasse am Lübecker Gymnasium, eine von der Sorte, die in Pausenhofumfragen wohl als ziemlich cool benotet würde. Eine, die sich einsetzt für ihre Schüler und auf der Klassenfahrt auch mal ein Bier mittrinkt.

Was keiner wissen soll: Jahn hat ihren Führerschein verloren und wird zu abendlichen Nachholsitzungen in der Fahrschule verdonnert. Hier trifft sie ihren Problemschüler Niklas, man albert herum, flirtet. Ein paar Begegnungen später verliebt sich der 16-Jährige in seine Lehrerin. Klingt nach schon tausendmal gesehen und schlechtem Lolita-Kitsch mit umgedrehten Vorzeichen. Umso überraschender, dass "Stille Post" (Regie: Matthias Tiefenbacher, Drehbuch: Thomas Oliver Walendy) sich nach etwa einer halben Stunde nicht zu einem weiteren zweitklassigen Verbotene-Liebe-im-Klassenzimmer-Drama entwickelt, sondern zu einem spannenden Konflikt zwischen ernst zu nehmenden Figuren, von dem man nicht weiß, wie er enden wird. Das Augenmerk der Macher liegt weniger auf dem Gefühlschaos der Protagonisten als auf dem Fall als öffentliches Politikum. Auf den Gerüchten, die sich schneller an der Schule verbreiten als Karies an schlecht geputzten Kinderzähnen und sich zu einer von den Medien gepushten Rufmord-Kampagne auswachsen.

Bis es so weit ist, braucht es allerdings seine Zeit. Und wenn die Zuschauer in den ersten, recht mauen 30 Minuten des Films vom Griff zur Fernbedienung absehen, ist das einzig der Verdienst von Sergej Moya ("Mein Vater"), dem man als Niklas sogar auf den abwegigsten Drehbuchabzweigungen bereitwillig folgt, etwa auf eine nächtliche Skateboardtour mit der Angebeteten. Eine Kopfgeburt, die auf dem Papier vielleicht nicht ganz so schwerfällig aussah, wie sie sich jetzt auf dem Bildschirm anfühlt. Aber Moya spielt selbst das mit einer körperlichen Präsenz, mit Charme und Intensität, dass man, wenn man ihm zusieht, sehr dankbar wird, dass es in Deutschland Schauspieler dieser Klasse gibt.

Und Ursula Karven? Macht ihre Sache erstaunlich souverän. Was teilweise an ihren starken Mitspielern Moya und Axel Milberg als ihrem Lebensgefährten liegen mag, aber eben nicht nur. Ihr gelingt das Kunststück, in einem Moment wie ein sehr junges Mädchen auszusehen (Kamera: Holly Fink) und im nächsten wie eine reife Frau. Sie schafft es, dass man Andrea Jahn ambivalent gegenübersteht, sie mal richtig prima findet und dann wieder die Augen über ihre vermeintliche Naivität verdreht. Man will unbedingt wissen, wie sie aus dieser verfahrenen Situation herauskommt. Und um welchen Preis.

Gedreht wurde der Film während der Ferienzeit an einer Hamburger Schule; die meisten Schüler werden von Laiendarstellern gespielt, was erstaunlich gut gelingt und einen von dem Gedanken verschont: Aha, so stellen sich deutsche Drehbuchautoren und Produzenten also vor, wie Jugendliche heute reden, krass, eye, Alder. Am ungewöhnlichsten aber ist der Schluss des Films, der es wagt, auf die letzte, die entscheidende aller Fragen keine Antwort zu geben, zumindest keine eindeutige: Haben sie oder haben sie nicht? Nicht wenige Zuschauer werden sich auf dem Sofa ratlos anblicken, wenn der Abspann über den Bildschirm läuft.

Und diejenigen werden überrascht sein von der Schauspielerin Ursula Karven, die sie nur noch für Yoga-Home-Videos und Pilcher-Soße auf dem Schirm hatten. In diesem Sinne: eine wichtige Rolle.

"Stille Post", heute 20.15 Uhr ARD