Kauz ist Kult: Es ist Trend, Nerd zu sein. Es ist in, den “Out-Look“ zu tragen. Wie Außenseiter mit Kassengestellen die (Kultur-)Szene erobern.

Hamburg. Jeder hatte einen in der Schulklasse. Oder zumindest in der Parallelklasse. Fast so, als würde für jeden Jahrgang extra einer gecastet. Die Rede ist vom Nerd - jenem englischen Ausdruck, der sich in etwa mit Kauz übersetzen ließe.

Gäbe es eine Spielepuppen-Edition jener Spezies, würden Kassengestelle und Aktenkoffer zur Grundausstattung gehören. Die perfekte Antithese zu den Sex-strotzenden Barbie und Ken. Das trainierteste Körperteil des Nerds ist das Gehirn, weshalb er gerne Witze macht, in denen wahlweise Quadratwurzeln vorkommen oder Musiker, die nicht mehr als fünf Personen kennen.

Der Nerd ist ein Außenseiter und, eigentlich paradox: Er ist Trend. In Filmen, Serien, Literatur, Medien und auf der Straße haben die Hinterbänkler in Sachen Coolness Hochkonjunktur. Eine Supernova der Sonderlinge.

Einst gab es gefühlt nur einen Nerd, der all seine Verschrobenheiten so kunstvoll nach außen trug, dass er zur Projektionsfläche für all unsere Unzulänglichkeiten wurde: Woody Allen. Der Regisseur ist der König des Dysfunktionalen. Die Hornbrille, die der Berufsneurotiker trägt, ist von Modemagazinen nun in "die Nerdbrille" umgetauft worden. Läden von der Schanze bis Soho bieten die Schlaumeier-Gestelle mit Glas als neuestes It-Accessoire an.

Auch die Band Flight Of The Conchords, derzeit auf Europa-Tour, ist ein perfektes Beispiel dafür, wie das Merkwürdige zum Mainstream wird. Die Konzerte waren meist minutenschnell ausverkauft. Die gleichnamige TV-Serie des amerikanischen Bezahlsenders HBO lief bisher nicht im deutschen Fernsehen, doch zahlreiche Fans hierzulande werden nach England oder Skandinavien pilgern, um zwei Typen in spack sitzenden Klamotten mit Gitarren auf der Bühne zu erleben. Die Anhänger hierzulande reichen die DVDs der beiden Staffeln weiter wie die Goldene Bulle - was den Nerd-Faktor noch erhöht. Denn vermeintliches Geheimwissen zu besitzen, ist für den Nerd so schön wie für den Normalbürger die Gehaltserhöhung. Geld spielt ansonsten keine vordergründige Rolle (Bill Gates und Steve Jobs einmal ausgenommen).

Während der Loser in einschlägigen 80er-Jahre-Filmen noch zum erfolgreichen Geschäftsmann mutieren musste (oder das hässliche Teenie-Entlein zum schönen Cheerleader-Schwan), dürfen die Eigenbrötler der neuen Formate sonderbar bleiben. So wie die beiden hoch entschleunigten Musiker Jemaine Clement und Bret McKenzie, die als Flight Of The Conchords mehr oder minder sich selbst spielen, nämlich "Neuseelands viert-populärstes Folk-Parodie-Duo", das sich in New York durchschlägt. Einziger Fan ist eine obsessive Dame mit Überbiss namens Mel, die Kekse mit den Konterfeis ihrer Angebeteten backt. Ein weiblicher Nerd. Ansonsten ist das Thema Frauen zwar präsent, aber wie bei vielen Nerds oft nur theoretisch. Kein Wunder, wenn da zwei Männer in einer WG leben und wie Ernie und Bert nebeneinander in schmalen Betten liegen.

Nerdtum, das ist auch ein dauerndes Nicht-Erwachsen-Werden. Ein Prinzip für jene, die sich das Leben für immer so gut strukturiert wünschen wie einen Physikbaukasten oder die nach Lieblingsbassspielern sortierte Plattensammlung. Nick Hornby hat aus den dauer-adoleszenten Pop- und Fußball-Fachidioten ein eigenes Genre geschaffen. Und in seinem Roman "Juliet, Naked" liefert der Brite auch gleich eine Erklärung dafür, warum die Freaks dermaßen auf dem Vormarsch sind: Natürlich ist, wie so oft, das Internet schuld.

Online finden sich nicht nur diverse Definitionen über die unklare Herkunft des Wortes Nerd. Das weltweite Web ist prädestiniert für die Anhäufung von (für den Großteil der Menschheit überflüssige) Information. Hornby erzählt, wie ein Anhänger des verschollenen Musikers Tucker Crowe online auf einmal die anderen verstreuten Fans findet. Schnell haben sich die "Crowologists" zu einer Gemeinschaft verschworen, die akribisch Liedzeilen analysiert.

Virtuell abgepuffert zu leben ist auch das Prinzip von Sheldon Cooper, Protagonist der US-Sitcom "The Big Bang Theory", die seit 2007 beim Sender CBS zu sehen ist und in Deutschland bei Pro7 lief. Jener ist, ebenso wie sein Mitbewohner Leonard Hofstadter, Doktor der Physik. Diese Brüder im Geiste versuchen, Beziehungsprobleme (anderer) mit Einstein zu lösen. Sie benutzen Darth-Vader-Shampoo. Und Luke-Skywalker-Spülung. Zu Halloween verkleiden sie sich als Frodo, bekannt aus "Herr der Ringe", und als Doppler-Effekt, nicht ganz so bekannt durch den Physiker Christian Doppler.

"Im Informationszeitalter sind wir die Alpha-Männchen", sagt Hofstadter angesichts eines als Tarzan kostümierten Muskelprotzes. Und vielleicht liegt darin ja ein weiterer Grund für die neue Salonfähigkeit des Geek, wie Nischen-Aktivisten auch gerne genannt werden. Schlau und schlaksig ist sexy. Also her mit Physiker-Ken und Labor-Barbie für die Kinderzimmer. Früh übt sich, wer ein echter Nerd werden will.