Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew hält Dmitri Medwedew für Russlands letzte Hoffnung. Heute spricht der Autor im Hamburger Rathaus.

Hamburg. Bereits mit seinem 1990 erschienenen Debütroman "Die Moskauer Schönheit" wurde der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew weltbekannt. 1947 als Sohn eines sowjetischen Diplomaten und hohen Funktionärs geboren, wuchs er in Paris und anderen westlichen Ländern auf, geriet aber später mit dem Sowjetsystem in Konflikt. Wir sprachen mit Jerofejew, der heute im Kaisersaal des Rathauses die Laudatio zur Verleihung der Gerd-Bucerius-Förderpreise Freie Presse Osteuropa hält, über sein Heimatland.

Abendblatt:

In Ihrer Hamburger Rede bezeichnen Sie den politischen Witz als "Weggefährten einer jeden totalitären Gesellschaft". Ist die Kultur des politischen Witzes mit der Sowjetunion untergegangen?

Viktor Jerofejew:

Der Witz ist der Teil der Kultur, der uns gegeben wird, wenn wir keine andere Waffe zur Hand haben. Er kann jetzt vergraben werden, aber nicht zu tief - damit wir ihn jederzeit wieder ausgraben und benutzen können.

Erzählt man sich heute in Russland noch politische Witze?

Es gibt mindestens eine Person in Russland, die immer wieder politische Witze provoziert, und das ist Ministerpräsident Putin. Heute haben wir zwar nicht mehr eine so breite Palette an politischen Witzen wie zur Zeit der Sowjetunion, aber Witze dieser Art werden immer noch benutzt. Je autokratischer die Gesellschaft gerade ist, desto intensiver.

Wie demokratisch ist die russische Gesellschaft heute?

Das ist wahrscheinlich die schwierigste Frage, die Sie mir heute überhaupt stellen werden. So viele Journalisten oder Politiker Sie danach fragen, so viele Antworten werden Sie darauf bekommen. Ich vergleiche unsere gegenwärtige Gesellschaft gern mit einem italienischen Insalata Mista, einem gemischten Salat. Darin gibt es Reste des Totalitarismus, es gibt Zutaten des russischen Imperialismus, auch autokratische Elemente, die an manche lateinamerikanische Länder erinnern, aber es gibt auch einige Elemente der Demokratie. Wir haben zum Beispiel einige wirklich freie Radiosender und Zeitungen, wie zum Beispiel die "Nowaja Gaseta".

Dennoch gibt es Angriffe auf die Presse, werden immer wieder kritische Journalisten ermordet.

Leider haben Sie recht. Das größte Demokratiedefizit aber betrifft unsere Bevölkerung. Wir Russen ähneln Mäusen, die einer Katze ein Denkmal errichten: Die Katze erfüllt die heilige Pflicht der Natur, sie muss Mäuse verzehren. Stalin hat die Menschen vergiftet, und das wirkt bis heute nach. Die Menschen sind noch immer autoritätshörig.

Medwedew hat Stalin kürzlich als Verbrecher bezeichnet. Ist das ein Signal, oder nur ein Lippenbekenntnis?

Es gibt bei uns auch intelligente Mäuse, Medwedew entwickelt sich in diese Richtung.

Werden die Zutaten zu dem russischen Insalata Mista unter Präsident Medwedew anders gemischt als unter Putin?

Medwedew ist unsere letzte Hoffnung. Ich glaube, der Westen sollte ihn auf intelligente Weise unterstützen. Zum Beispiel in seiner Haltung zu Stalin, zu Katyn und zum Kriegsende. Putin hat gesagt, das schlimmste Ereignis der russischen Geschichte sei die Auflösung der Sowjetunion gewesen. Für Medwedew war es der Zweite Weltkrieg.

In der Sowjetunion hatte Dichtung eine Ersatzfunktion. Die Menschen haben zwischen den Zeilen der Literatur nach jener Wahrheit gesucht, die die Presse nicht zu bieten hatte. Ist die Rolle der Literatur heute eine andere?

In den letzten 20 Jahren haben wir einen weiten Weg zurückgelegt, der Grad der Repression ist enorm gesunken. In der Sowjetunion war die Literatur der einzige Bereich, in dem Fragen nach der Freiheit gestellt werden durften. Freiheit haben wir aus den Werken von Tschechow, Tolstoi oder Majakowski gelernt. In der Sowjetunion war die Literatur für alles zuständig - von der Moral über die Wirtschaft bis hin zu den Finanzen. Gott sei Dank ist die Rolle der Literatur heute reduziert. Dennoch ist Russland ein sehr literarisches Land geblieben.

Aber die Literatur spielt eine geringere Rolle für das Leben der Menschen?

Obwohl es in Russland jetzt eine freie Presse gibt, suchen sie nicht bei den Journalisten, sondern bei den Schriftstellern nach der Wahrheit. In der Sowjetunion haben junge Männer bei Schriftstellern danach gefragt, ob sie ein bestimmtes Mädchen heiraten sollen oder nicht. In der Provinz stellt man mir noch heute solche Fragen - ich weiß nicht, ob das gut ist oder schlecht.

Das kommt wahrscheinlich darauf an, welche Ratschläge Sie geben ...

Ich freue mich, dass mir solche Fragen gestellt werden. Daran erweist sich, welche Bedeutung die Kunst des Wortes für die Menschen in Russland hat, und dass sie auch Teil der politischen Kultur ist, was im Westen kaum bemerkt wird.