Die sardische Autorin Michela Murgia liest aus ihrem Erfolgsroman “Accabadora“

Buchladen Osterstraße. Eine Sechsjährige, ungewolltes viertes Kind, wird aus Not von ihrer Mutter an eine kinderlose Alte weggegeben. Sie bekommt ein Bett für sich allein, sogar ein Zimmer voller Heiligenfiguren. Zwei Nächte wartet sie im Dunkeln darauf, dass die Figuren blutige Tränen weinen oder ein Heiligenschein aufleuchtet, in der dritten schreit sie.

Was wie eine Szene aus einem Thriller klingt, ist der furiose Auftakt zu "Accabadora" von der sardischen Autorin Michela Murgia. Heute Abend liest Murgia im Buchladen Osterstraße; Annette Kopetzki rezitiert die deutsche Fassung, übersetzt und moderiert. In ihrem Debütroman nimmt die 38 Jahre alte Murgia, studierte Theologin und nach einigen Jahren in Mailand wieder in Sardinien lebend, ein Motiv ihrer eigenen Kindheit auf: Wie Maria ist sie als fill'e anima aufgewachsen, als "Kind des Herzens", adoptiert von einer kinderlosen Frau. Mit wenigen wohlgesetzten Bildern eröffnet Murgia ihre Geschichte, gehalten in den Erdtönen der hitzeflirrenden Landschaft, in der archaisch wirkenden Dorfgemeinschaft, die auch in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts noch in den Klauen von Glauben und Aberglauben gefangen ist.

Monatelang tratschen die Leute über dieselben Dinge, natürlich auch über das abgegebene Kind. Warum sie das tun, davon bekommt der Leser lange vor Maria eine Ahnung. Murgia spinnt um die alte Tzia Bonaria eine schwer zu fassende Unheimlichkeit. Zugleich zeigt sie sie in ihrer Fürsorglichkeit; ohne viel Aufhebens etwa entfernt Bonaria schrittweise die Devotionalien aus Marias Zimmer.

Selbst als Maria bemerkt, dass Bonaria nachts mitunter verschwindet, ahnt sie nicht, wohin und warum. Wir hingegen erfahren es von einem jungen Versehrten, der sich von Bonaria nichts weniger als den Tod wünscht: Sie ist eine Accabadora, eine "Lebensbeenderin". Mit Euthanasie und politisch überformten Ethikbegriffen hat das nichts zu tun, hier hat Murgia den Leser längst mitten hineingezogen in die sardische Legendenwelt. Von Maria zur Rede gestellt, fasst Bonaria das, was sie tut, in schlichte Worte: "Es gibt keinen Lebenden, der seine letzte Stunde erreicht, ohne Väter und Mütter an jeder Wegkreuzung gehabt zu haben." Der Konflikt darüber wird für Maria zum Moment des Erwachsenwerdens.

So bildmächtig das Buch, so schnörkellos ist die Sprache, die Julika Brandestini kongenial ins Deutsche übertragen hat. Es ist ein Fest, wie genau Murgia beobachtet, wie liebevoll und skurril sie ihre Figuren zeichnet: Marias Kinderfreund Andría etwa, der sie mit aufgerissenen Augen vor Spinnen warnt, oder den Priester, Lukullus ergeben und rhetorisch minderbegabt.

Genauso bravourös umschifft Murgia die Klippen aufgesetzter Folklore. Worte wie Laminat, Fernseher, Fahrradschlauch fügen sich in ihren unaufgeregten Sprachfluss ein und verorten die in ihrer Handlung vollendet zeitlose Geschichte unauffällig in unserer Zeit.

Über den Anteil an Selbsterlebtem schweigt Murgia. "Ich verabscheue die anmutigen Kadaver geschnittener Blumen", gibt sie preis, aber auch "Journalisten, wenn sie nach Autobiografischem fragen". Sie hat selbst als Journalistin gearbeitet und als erstes Buch ein Tagebuch über ihre Arbeit in einem Callcenter veröffentlicht.

Vor ihrer scharfen Zunge scheint nichts sicher. Auch in "Accabadora" vermeidet sie dank ihres hintersinnigen Witzes jede gefühlige Klebrigkeit: Da besucht der Priester eine Familie, "in der die Männer noch niemals Gefahr gelaufen waren, auf den Stufen zur Kirche zu stolpern und sich ein Bein zu brechen". Zum Klischee neigt nur die Episode außerhalb des Dorfs. Marias Weggang mag dramaturgisch notwendig sein; aber müssen die reichen Turiner, bei denen sie als Kinderfrau arbeitet, kühl und die Kinder verzogen sein?

Der Kraft des Buchs tut es keinen Abbruch. Und der Vitalität seiner Autorin schon gar nicht. "Hast du Angst vor dem Tod?", hat sie ein Journalist gefragt, dem sie offensichtlich gern geantwortet hat. Und sie gab zurück: "Nicht vor meinem eigenen."

"Accabadora" Michela Murgia: heute 20 Uhr, Buchladen Osterstraße (U Osterstraße), Karten zu 6,- unter T.491 95 60. Das Buch (176 S.) ist bei Wagenbach erschienen und kostet 17,90.