Hans-Ulrich Treichels “Grunewaldsee“ erzählt im Plauderton von einem melancholischen Helden.

Die literarische Familie Hans-Ulrich Treichels hat Zuwachs bekommen. Paul, der Protagonist des neuen Romans "Grunewaldsee", fügt sich mühelos in das Ensemble aus Tagträumern und Zauderern der bisherigen Romane des Schriftstellers ein. Zumindest Seelenverwandte sind seine Romanfiguren. Sie zeichnen sich nicht durch Ehrgeiz oder Beharrlichkeit aus, sie sind weder Machos noch machtgierig: ihnen widerfährt das Leben einfach. Das Scheitern daran kalkulieren sie gewissermaßen immer ein. Und sind dann überrascht, wenn es nicht eintritt.

Paul ist dem elterlichen Einfamilienhaus entflohen, studiert an der Berliner FU und lebt in einer Hinterhofwohnung. Seine wissenschaftlichen Höhenflüge halten sich in Grenzen, er betrachtet sich eher als "Denker von Gedachtem". Seine erotischen Fantasien beschränken sich notgedrungen auf die "Kombination aus Mädchenlocken, Nickelbrille und zerrissenen Jeans". Die Trägerin dieser Verlockungen heißt Birgit, ist Studentin der Kunstgeschichte und gibt tatsächlich Pauls bescheidenem Bemühen nach. Eine Art "sozialpartnerschaftliche" Liebe entsteht alsbald: "Der Sex zwischen ihm und Birgit hätte auch der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft gefallen." Nach einiger Zeit trennt man sich ohne viel Aufhebens. Und dann kreuzt die Spanierin Maria in Pauls Leben auf. Mitten in Málaga, wohin es Paul nach dem Examen verschlagen hat. Er bekommt eine schlecht bezahlte Stelle an der Universität.

Maria, wie Paul Mitte zwanzig, entspricht nicht auf Anhieb der Klischeevorstellung von einer Spanierin: Sie ist blond und hat graugrüne Augen. "Aber sie besaß einige Charakterzüge, die gewissermaßen schwarzhaarig und glutäugig waren, was für Paul eine unwiderstehliche Mischung darstellte." Maria schlüpft völlig überraschend in Pauls Bett und schmiegt sich an ihn. Eine aufregende, verrückte, beglückende Liebesaffäre entsteht. Doch ist ihr Ende bereits programmiert: Maria ist nicht nur verheiratet, sondern auch schwanger - und ihrem Kind möchte sie den Vater, auch wenn er ihr ungeliebter Ehemann ist, nicht vorenthalten. Bald ist auch Pauls Jahr in Spanien zu Ende.

Er kehrt nach Berlin zurück. Er wartet auf eine Stelle, er wartet auf Maria oder wenigstens auf ein Zeichen von ihr, auf ein paar Zeilen oder auf Fotos der kleinen Tochter. Das Warten wird beinahe zur Lebensaufgabe. Die Zeit zieht an unserem traurigen Helden vorüber und damit auch der Fall der Mauer. "Statt sich drei bis vier Jahre in eine Warteschlange zu stellen, hätten andere Menschen wahrscheinlich längst ihr gesamtes Leben umgekrempelt. Wären ausgewandert. Hätten ein Taxiunternehmen gegründet. Eine Zahnärztin geheiratet. Mehrere Kinder gezeugt. Ein Grafikdesignstudium drangehängt oder sich in Bayern oder Rheinland-Pfalz oder sonst wo um eine Referendariatsstelle bemüht. Nicht so Paul."

Er übt sich mühelos in Geduld, stellt alltagsphilosophische Betrachtungen an, zeigt sich als genauer Beobachter seiner sozialen Umwelt, blickt voller Lakonie auf sich selbst. Und dann trifft er auch Maria wieder.

Treichel erzählt die Geschichte seines melancholischen Helden in der ihm eigenen liebevoll-lakonischen Weise. Dabei wechselt er kunstvoll Ebenen und Zeiten, flicht wie nebenbei Gelehrtes und Gelehrsames ein, parliert auf diese unnachahmliche Art, die sich wie ein Plauderton gebärdet, aber äußerst genau und bodenständig ist. Von der Tragikomödie des Lebens erzählt niemand so schön wie Hans-Ulrich Treichel.

Hans-Ulrich Treichel: Grunewaldsee. Suhrkamp Verlag, 237 Seiten, 19,80 Euro