Im rappelvollen Knust stellte Jamie Lidell sein Album vor

Hamburg. Wer am Sonnabend im Knust kurz die Augen schloss, meinte eher einen jener schwarzen Brachial-Vokalisten der Motown-Ära singen zu hören als einen milchgesichtigen Schlacks mit Kastenbrille und Straßenköterhaar. "Compass" heißt das frisch erschienene Album, das Jamie Lidell vor knallvollem (und zunehmend tobendem) Saal mit seiner dreiköpfigen Band präsentierte. Und obwohl der 36-Jährige musikalisch in alle Himmelsrichtungen gleichzeitig zu laufen scheint, gen Soul, Funk, Hip-Hop, Elektro, Rock und Pop, verliert sein Sound nie die Orientierung.

Lidell beschreitet all diese stilistischen Pfade als großer Zeremonienmeister: das Mikro in der Linken und einen Trommelstock in der Rechten, mit dem er wahlweise ein kleines Schlagzeug-Ensemble bearbeitet oder die Menge zum Singspiel dirigiert. Sein Flickenumhang wirkt wie eine modische Verbeugung vor dem alten Budenzauberer James Brown, soll Lidell aber, wie wir später lernen, als Gypsy auszeichnen, als Reisenden. Denn der Brite ist von Paris nach New York gezogen und hat in den USA renommierte Wegbegleiter wie Beck und Chris Taylor von Grizzly Bear gefunden.

Lässig in den Knien wippend liefert diese herzzerreißend singende Vogelscheuche dreckige Funk-Nummern wie "The Ring", Fingerschnipp-Songs wie "Enough 's Enough" und Balladen wie das Titelstück "Compass", das mitunter an den predigenden Tonfall eines Marvin Gaye erinnert. Diese retroaffinen Lieder bereitet die Band jedoch nicht glatt auf, sondern baut stets Irritierendes, Interessantes ein, eine menschliche Beatbox etwa oder Geräusche aus dem Gerätepark. Das Ganze rumpelt dann überraschend eingängig im Spannungsfeld zwischen Schlafzimmer- und Tanzmusik. Fast so, als habe die Indie-Gemeinde endlich ihren Prince gefunden. Und der hört im wahrsten Sinne auf Volkes Stimme: Als Zugabe taucht Lidell zu seinem 2008er-Hit "Another Day" im Publikum ab und lässt Einzelne den Refrain ins Mikro singen. Da zeigt sich: Hamburg hat mehr als ein kleines bisschen Seele.