In der Hamburger Botschaft glänzt Daniel Wahl in “M - Ein Mann jagt sich selbst“.

Hamburg. Erst die katholische Kirche, dann Elite-Internate, nun der Fall des "konkret"-Gründers Klaus Rainer Röhl: Kindesmissbrauch ist augenblicklich das Thema in den Medien und beherrscht - bisweilen mit Zügen von Hysterie - die Öffentlichkeit. Da kommt Clemens Mädges Monolog "M - Ein Mann jagt sich selbst" zum richtigen Zeitpunkt. Der Autor packt das heikle Thema mit außerordentlichem Fingerspitzen- und Sprachgefühl an. Er inszenierte auch selbst die Studie eines Psychopathen mit dem eindringlich spielenden Daniel Wahl in den weißen Galerieräumen der Hamburger Botschaft. Wahls darstellerischen Grenzgang, seine intensive Tour de Force Auge in Auge mit dem Publikum, belohnte nach einer fesselnden Theaterstunde starker Schlussapplaus.

Auf dem weißen Podest an der Wand liegt ein schwarzer Hut. Sein Besitzer kommt von draußen hereingestürzt. Verbarrikadiert die Tür. "Nichts passiert. Die Straße sieht genauso aus wie immer." Er wirkt gehetzt, ordnet Krawatte und Kleidung. Vielleicht ein kleiner Beamter. Brav verheiratet, unauffällig, grau die Weste und Hose. Er fasst die Zuschauer fest ins Auge, als ob sie seine Ankläger oder Verfolger wären. Redend rechtfertigt er sich vor ihnen, spricht aber auch zu sich. Der Monolog wird von fernen (Straßen-)Geräuschen, von Pausen, Licht- und/oder Platzwechseln strukturiert.

Clemens Mädges Stück ist durch Fritz Langs "M - Eine Stadt sucht einen Mörder" (1931) mit Peter Lorre als Kindermörder inspiriert. Aber statt den Film nachzuerzählen, lässt der Nachwuchsautor, Jahrgang 1983, das Geschehen im Kopf des sich verfolgt fühlenden und zugleich vor sich selbst flüchtenden Mannes ablaufen. Den Text hat Mädge präzise und poetisch mit kreisenden Motiven komponiert. Raffiniert lässt er offen, ob es sich um einen tatsächlichen Verbrecher oder nur um eine Vorstellung von ihm handelt - angeheizt durch den Mord an einem Mädchen und die Jagd nach dem Täter.

"Sie starren mich dauernd an", erkennt der von Zuschauern angestarrte Psychopath in wachsender Panik. Dem grellen Licht ausgesetzt, empfindet er ihren Blick als schamlos, unterstellend, anklagend. Versucht andererseits seinem anderen, ihm unbekannten Selbst auf die Spur zu kommen. Sein Bewusstsein scheint eine Tabula rasa zu sein - so blank und hell wie der Raum, in dem er das Publikum rastlos umkreist. Beim Halluzinieren der Tat erkennt er sich jedoch als schwach und nicht gewillt, die Dämonen zu überwinden. Daniel Wahl betrachtet seine Hände, als ob sie ihm nicht gehörten. "Habe ich das getan?"

Harmlos und lächelnd zeigt sich der Schauspieler mit dem offenen Blick zu Beginn. Der adrette, nette Nachbar. Dann lässt er Zug um Zug das andere Ich von sich Besitz ergreifen und zeigt die dunkle Seite des Mannes, ohne ihn je zu denunzieren oder vordergründig theatralisch als Verrückten vorzuführen. Unter den Augen des Publikums gelingt Wahl in einer Art entspannter Lässigkeit, doch mit wachsender Intensität der Balanceakt einer gespaltenen Persönlichkeit, deren Ängste und Widersprüchlichkeiten er aufdeckt. Eine beeindruckende Leistung.

An diesem kurzen, doch dichten Theaterabend stimmt einfach alles: das Stück, der Spielort, die Inszenierung. Clemens Mädge, Regieassistent am Schauspielhaus, hat bereits mit seinem Debütstück über Demenz, "Im Stillen", aufmerken lassen.

Der neue Monolog zum brisanten Thema Kindesmissbrauch aus Tätersicht soll keinesfalls derartige Verbrechen verharmlosen, zeigt sie jedoch aus einer anderen Perspektive, als sie in der öffentlichen Diskussion dargestellt werden. Über die "alltäglichen" Benachteiligungen oder Misshandlungen von Kindern wird oft hinweggesehen, mit bloßer Neugier starren Menschen auf Fahndungsplakate und lesen Sensationsartikel. Nicht zufällig hat der Regisseur die Fensterfront der Hamburger Botschaft mit Zeitungsseiten verhängt.

Die Eventlocation zwischen Karo- und Schanzenviertel hat das Schauspielhaus als Nebenspielstätte für sich entdeckt, zeigt nun dort die dritte Produktion. Ein kleines Glanzstück - auch für Daniel Wahl. Nach dem Abend wünscht man sich, den in letzter Zeit viel inszenierenden Künstler wieder öfter als Schauspieler erleben zu können. Auch auf der großen Bühne.

M - Ein Mann jagt sich selbst 18./19.5., 8./9.6., 20.30 Uhr, Hamburger Botschaft, Sternstr. 67, Karten: T. 24 87 13 oder www.schauspielhaus.de