Washington .

Fraidy Reiss weiß, wie es sich anfühlt, wenn einem brutale Traditionen die Zukunft verbauen. Mit 19 wird die Tochter aus jüdisch-orthodoxem Elternhaus in Brooklyn gegen ihren Willen mit einem Mann verheiratet. Bereits in der Hochzeitsnacht entpuppt er sich als cholerischer Gewalttäter. Zehn Jahre kostet Reiss das Ringen um Unabhängigkeit. Dann wird die Ehe geschieden. Heute ist Fraidy Reiss 40 und als Chefin der gemeinnützigen Frauenrechts-Organisation „Unchained at Last“ (Am Ende befreit) eine der mächtigsten Stimmen gegen das Phänomen Zwangsheirat. Nein, nicht die im Mittleren Osten, Pakistan oder Afghanistan. Die auf amerikanischem Boden. Wie bitte?

95 Prozent der Betroffenensind Mädchen unter 18 Jahren

Dass auch im Land der „Mutigen und Freien“ das Selbstbestimmungsrecht vor allem junger Mädchen regelmäßig mit Missachtung gestraft wird, erfuhr die breite Öffentlichkeit zum ersten Mal durch das „Tahirih Justice Center“. Die ehrenamtliche Hilfsorganisation vor den Toren Washingtons förderte durch mühselige Befragungen zutage, dass allein zwischen 2009 und 2011 in 47 Bundesstaaten rund 3000 Zwangsehen geschlossen wurden. Zwang, weil ein Beteiligter, in der Regel die Frau, nie nach ihrer Meinung gefragt wurde. Und wenn doch, wurde ihr Nein von Familie und Bräutigam ignoriert. „In über 95 Prozent der Fälle“, so Tahirih-Sprecherin Casey Swegman, „waren Mädchen unter 18 die Opfer.“ Und die Dunkelziffer liegt weitaus höher. „Wir kratzen nur an der Oberfläche“, sagt Swegman. Und die Behörden haben oft ihre Hand im Spiel.

Fraidy Reiss fand heraus, dass im Bundesstaat New Jersey zwischen 1995 und 2002 mit elterlicher Zustimmung und richterlicher Genehmigung rund 200 Ehen geschlossen worden, bei denen die Mädchen zwischen 10 und 15 Jahre alt waren. „Das sind Fälle für Unzucht mit Minderjährigen und nicht für eine Heirats-Lizenz“, sagte die Aktivistin und bekräftigt die Hauptforderung ihres Frauen-Netzwerks, das es bereits zu Unterredungen im Weißen Haus gebracht hat: „Das Mindesalter für Heiratswillige muss generell bei 18 Jahren liegen.“ Viele Bundesstaaten halten es zwar auf dem Papier so. Aber in Massachusetts können bereits 12-Jährige heiraten. In Kalifornien gibt es gar keine Altersgrenze.

Reiss fordert ein „faires Instrumentarium“ für Opfer, die sich aus der Ehehölle befreien wollen. Jugendschutzbehörden sowie die Justiz seien oft nicht sensibilisiert genug. Als Fraidy Reiss für ihren Gatten ein Kontaktverbot durchsetzen wollte, musste sie durch Vorlage von Polizeiberichten die chronische Gewalttätigkeit nachweisen - und dafür Gebühren zahlen.

Was die Schutzvorkehrungen für Opfer von Zwangsheirat anbelangt, die laut Tahirih aus allen Konfessionen von Islam und Hinduismus bis Römisch-Katholisch und Mormonen kommen, „ist Amerika Entwicklungsland“. Mit Neid schaut Fraidy Reiss auf England und Wales. Dort gibt es eine landesweite Telefon-Hotline für Notfälle und Ratsuchende. Eine Spezialeinheit kann im Ausland Frauen aus Großbritannien unter Schutz stellen, die in eine Heirat gezwungen wurden. Beide Länder haben Zwangsheirat per Gesetz zum Verbrechen erklärt, auf das bis zu sieben Jahre Haft steht.

Die Gesetze in den USAsind unzureichend

Unterdessen wächst der Handlungsbedarf in den USA. „Wir haben in diesem Jahr acht Mal mehr Anrufe von Frauen als 2014“, berichtet die Tahirih-Sprecherin Swegman. Dabei hat sich vor allem ein Detail als kaum überbrückbares Hindernis erwiesen: „Bevor die Frauen 18 sind, können sie noch nicht einmal die Scheidung einreichen“, kritisiert sie.

Auch darum sind Fälle mit öffentlicher Durchschlagskraft willkommen, die zeigen, dass der Einsatz der demokratischen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton gegen Kinder- und Zwangsheirat generell auch im Heimatland nötig ist. Fälle wie der von Panyia Vang. Die 22-jährige Frau aus Minnesota, die zum Berg-Volk der Hmong gehört, war als 14-Jährige nach Vientiane, der Hauptstadt von Laos, gelockt worden. Angeblich, um ein Musikvideo aufzunehmen. Stattdessen wurde sie von einem Landsmann mit amerikanischem Pass vergewaltigt, dabei schwanger und musste ihren Peiniger dann zwangsweise heiraten. Beide leben heute in den USA. Vang hat den 43-Jährigen gerade vor einem Bundesgericht verklagt. Sie will 450.000 Dollar Schadensersatz. Es wäre die erste Bestrafung dieser Art.