Washington.

Barack Obama kennt sich aus mit Streetwork. In den Elendsvierteln von Chicago war der amerikanische Präsident in jungen Jahren Sozialarbeiter. Doch in diesen Tagen ist ein anderer Ort der Hoffnungslosigkeit sein Ziel: Mit Charleston in West Virginia besuchte Obama gestern das Epizentrum einer Epidemie, die im Land immer mehr Opfer fordert: Heroin.

Binnen zehn Jahren hat sich die Zahl der Drogentoten landesweit vervierfacht. Zuletzt starben 8200 pro Jahr. 520.000 Menschen waren 2013 in den USA abhängig, eine Verdreifachung gegenüber 2007. In West Virginia ist es besonders schlimm. Mit 34 Drogentoten je 100.000 Einwohnern liegt die Region mehr als 150 Prozent über dem US-Durchschnitt. Die Zeitung „Bluefield Daily Telegraph“ schreibt von einer „Seuche“, die „wie ein Schatten über unseren Häusern, Straßen und Gemeinden liegt“.

Die neuen Kunden sind Weißeaus dem Mittelstand

Was Tom Frieden, Direktor der staatlichen Gesundbehörde CDC, besonders beunruhigt: „Die Droge kennt keine demografischen und gesellschaftlichen Grenzen mehr.“ Der höchste Anstieg beim Konsum wurde zuletzt bei Menschen mit hohem Einkommen und privater Krankenversicherung in den Mittelstandsvierteln weißer Vorstädte verzeichnet. Darunter auffällig viele Frauen. Die Gründe dafür sind hausgemacht.

Bis vor Kurzem verschrieben Ärzte in den USA auch gegen Allerweltssymptome im Übermaß harte Schmerzmittel wie Oxycontin. 259 Millionen Rezepte wurden allein im vergangenen Jahr ausgestellt. Das hochwirksame Opiat hat Hunderttausende süchtig gemacht, der Gesetzgeber schritt erst spät ein. Die Pillen wurden verknappt, Ärzte und Kliniken an die Kette gelegt. Aber für viele Patienten kam das zu spät. Sie hatten schon bei einem chemisch sehr ähnlichen Ersatz Zuflucht gesucht: Heroin.

Mexikanische Drogenkartelle spürten die Nachfrage früh. Sie erhöhten laut Drogenfahndung DEA die Produktion und erschlossen sich mit Dumpingpreisen immer größere illegale Märkte. Kostet Oxycontin heute oft 50 Dollar pro Pille, so ist die Einzeldosis Heroin in vielen Städten für sechs Dollar zu haben – die Hälfte von dem, was man in Manhattan für eine Schachtel Zigaretten hinlegen muss.

Für die Kartelle bleiben dennoch obszöne Gewinnspannen. Ein Kilo Heroin kostet südlich des Rio Grande in der Herstellung 5000 Dollar, berichteten Drogenfahnder. „Ein geschickter Dealer in Philadelphia oder New York kann den Verkaufswert durch Strecken auf 300.000 Dollar hochtreiben.“

Tödliche Wechselwirkungen bereiten Politik und Medizin zusätzliche Sorgen: Wer lange Zeit harte Schmerzmittel genommen hat, mit denen Pharmariesen im Jahr Umsätze von 15 Milliarden Dollar machen, greift schneller zu Heroin, um den „Kick“ zu bekommen, schreibt die Gesundheitsbehörde CDC. Umgekehrt haben klassische Junkies ihren Konsum mit „Painkillern“ wie Fentanyl erweitert. Resultat: Immer öfter werden Rettungsdienste zu Patienten („Pillbillies“) gerufen, bei denen nach Einnahme von verschreibungspflichtigen Opiaten und Heroin die Atmung aussetzt.

Gerichte können die Flut von Drogen­delikten nicht bewältigen

In West Virginia erhofft sich Gouverneur Earl Ray Tomblin mehr bundesstaatliche Hilfe, um im Kampf gegen die Drogen nicht unterzugehen. Die Gerichte kommen mit der Flut von Drogendelikten nicht mehr klar. Der Ruf nach Entkriminalisierung und mehr Therapieeinrichtungen für Abhängige wird zusehends lauter. Im Bezirk Cabell County fürchtet der Stadtrat um den Wirtschaftsstandort: „Bei dieser hohen Quote von Abhängigen kommen wir ökonomisch nicht voran. Kein Unternehmen wird sich hier niederlassen.“

Barack Obamas Pilotprogramm zur Bekämpfung der Heroinkrise beläuft sich auf 2,5 Millionen Dollar. Für den gesamten Osten der Vereinigten Staaten. Für die Kartelle in Mexiko ist das nicht mehr als ein Trinkgeld.