Ankara. Mindestens 95Tote in Ankara. Kurden und Regierung beschuldigen sich gegenseitig

Nach dem schweren Anschlag auf einen Friedensmarsch in Ankara haben sich am Sonntag Tausende Menschen in Trauer und Wut im Zen­trum der türkischen Hauptstadt versammelt. Die Zahl der Todesopfer nach dem mutmaßlichen Selbstmordanschlag vom Vortag lag am Sonntag bei mindestens 95, die prokurdische Partei HDP sprach von mehr als 120 Toten. Wer hinter dem Angriff steckt, war weiter unklar. Aus Sicherheitskreisen verlautete, erste Hinweise deuteten auf die Extremisten-Miliz „Islamischer Staat“ (IS). Die Regierung hatte zuvor auch die Kurdische Arbeiterpartei PKK und die linke DHKP-C als Verdächtige genannt. Die prokurdische Partei HDP beschuldigte dagegen die islamisch-konservative Regierungspartei AKP, ihre Finger im Spiel zu haben, um ihre Stellung vor der Parlamentswahl am 1. November zu stärken.

Zu der Kundgebung vor dem Hauptbahnhof hatten sich viele Anhänger der HDP versammelt, um ein Ende der Gewalt zwischen dem türkischem Militär und kurdischen Militanten zu fordern. Tausende kamen auf dem nahe gelegenen Sihhiye-Platz zusammen und beschimpften in Sprechchören Präsident Recep Tayyip Erdogan als Mörder. Nach Angaben der HDP kam es zu Rangeleien mit der Polizei, als Parteimitglieder rote Nelken am Anschlagsort niederlegen wollten.

Den Ermittlungen zufolge zwei Selbstmord­attentäter den Anschlag verübt. Bei einem handele es sich um einen 25- bis 30-Jährigen, berichtete die regierungsnahe Zeitung „Yeni Safak“. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte, der „brutale Terroranschlag auf friedliche De­monstranten“ sei ein Angriff auf den demokratischen Prozess in der Türkei. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundespräsident Joachim Gauck kondolierten.

Mehrfach hatte die HDP Erdogans AKP vorgeworfen, nationalistische Stimmungen anzuheizen. Bei der Wahl im Juni hatte die HDP überraschend stark abgeschnitten, was die AKP ihre absolute Mehrheit kostete. Erdogan hatte auf eine Zweidrittelmehrheit zum Ausbau seiner Macht gehofft. Die Neuwahl wurde ausgerufen, weil Koalitions­gespräche scheiterten. Die PKK rief am Sonnabend ihre Kämpfer auf, alle Guerilla-Aktionen in der Türkei auszusetzen. Vizeministerpräsident Yalcin Akdogan sprach von „Wahltaktik“ und forderte die Gruppe auf, ihre Waffen niederzulegen und das Land zu verlassen. Am Wochenende bombardierte die türkische Luftwaffe PKK-Stellungen im Süden des Landes und im Irak.

In Hamburg und anderen Städten Deutschlands haben nach dem Anschlag Tausende Kurden und Sympathisanten gegen den Terror demons­triert. „Kein Beileid für Erdogan aussprechen, denn er ist der Täter“, stand auf einem Schild bei einer Demonstration mit 1500 Teilnehmern am Sonnabend in Hamburg.

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