Potsdam.

Elias ist überall. Er schaut den Betrachter im Foyer der Sparkasse an, in den Bahnhofspassagen, in der Straßenbahn, sein Foto klebt an Schaufenstern. Zart sieht er aus, dieser Sechsjährige mit den kurzen, blonden Haaren und den blauen Augen. Womöglich ist Elias in großer Not, wird irgendwo gefangen gehalten. Womöglich ist es aber längst zu spät. Dann der Gedanke: Er könnte plötzlich wieder auftauchen. Vor dem Plattenbau am Inselhof. Und zu Hause klingeln. Nein, es klingelt nicht. Der Sandkasten vor dem Haus, in dem Elias das letzte Mal am Mittwoch vor zwei Wochen gesehen wurde, liegt verlassen da.

Ein Kind ist verschwunden. Spurlos. Polizei, Helfer und Spürhunde, alle drehen sich bei der Suche im Kreis. Eigentlich müsste Elias noch hier sein. Keine Spur führte bisher aus dem Schlaatz heraus. Der Schlaatz ist einen Quadratkilometer groß und eine eigene Potsdamer Welt. Wer hier wohnt, hat meist nur wenig Geld zur Verfügung. Viele Bewohner sind arbeitslos. In den 90er-Jahren galt das Plattenbaugebiet am südlichen Stadtrand als Problemviertel. Jeder, der es sich leisten konnte, zog weg. Inzwischen sind Millionensummen in das Neubaugebiet geflossen, zahlreiche soziale Projekte laufen. Mehr als 9000 Menschen wohnen hier.

Die Soko „Schlaatz“ sucht mit 60 Beamten nach dem Jungen

Es scheint ein Wochentag zu sein wie jeder andere. Ein älterer Mann in Jogginghose und Muskel-Shirt sitzt in der Mittagshitze auf der Bank vor dem Markt und öffnet seine Bierflasche. Eine junge Frau brüllt durch die geöffnete Tür in den Laden hinein: „Kommst du jetzt her! Hab ich dir nicht gesagt, du sollst hierbleiben?“ Sie rennt durch den Kassengang, packt ihr kleines, blondes Mädchen grob an den Schultern. „Gleich setzt es eins.“ Alle schauen betreten weg.

Ein Kind ist verschwunden. Es ist noch nicht lange her, dass Elias mit seiner Mutter zu deren Lebensgefährten in den Schlaatz gezogen war. Vorher wohnten sie angeblich im Zentrum-Ost, auch in der Platte. Wie Nachbarn erzählen, ging Elias dort noch zur Schule. Die Polizei gibt nichts über die familiären Verhältnisse bekannt. Am Mittwoch, 8. Juli, war um 19.12 Uhr der Notruf eingegangen. Eine Mutter meldete ihren Sechsjährigen als vermisst. Ab 18.33 Uhr hatte der Lebensgefährte bei Bekannten angerufen, ob sie Elias gesehen hätten.

Für die Polizei steht fest: Die Mutter hatte den Jungen um 15.45 Uhr im Hort abgeholt, gegen 16 Uhr kamen sie zu Hause an. Danach ging sie mit ihrem Lebensgefährten einkaufen. Sie gibt an, Elias anschließend in dem Sandkasten noch spielen gesehen zu haben. Das war gegen 17 Uhr. „Eins ist sicher: Elias ist zwischen 17 und 18.33 Uhr weggekommen“, sagt Kriminaldirektor Sven Mutschischk. Weggekommen. Das hört sich an, als sei etwas gestohlen worden. Der 46-Jährige leitet die 60-köpfige Soko „Schlaatz“. Seit 25 Jahren ist er bei der Kripo, war bei einer Spezialeinheit, beim LKA und beim Innenministerium. Ein erfahrener Beamter. Der Fall Elias geht auch ihm sehr nahe, sagt er. Zumal die Hoffnung von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde schwindet, das Kind unversehrt zu finden.

Die Ermittlungen richten sich auch auf die Familie und den getrennt lebenden Vater. Mehr gibt die Polizei aus „ermittlungstaktischen Gründen“ nicht preis. In Berlin leben Verwandte, die Polizei prüfte, ob Elias bei ihnen ist. Dass er weggelaufen ist von zu Hause, glaubt sie nicht mehr.

Allein 1000 Flugblätter haben die Beamten verteilt. „Wer hat Elias gesehen?“ Über 650 Hinweise von Bürgern sind in den 14 Tagen eingegangen. Kein Einziger führte zu dem Kind. Dabei war das Echo überwältigend. Noch an dem Abend, an dem Elias verschwand, hat eine Freundin der Mutter auf Facebook eine Seite initiiert: „Suche Elias“. Tausende fanden sich daraufhin dort zusammen. Hunderte kamen in den Tagen darauf an den Schlaatz – mit einem Ziel: den Sechsjährigen zu finden. Ein solches Engagement hat es bundesweit noch nicht gegeben.

Für die Polizei waren die vielen Helfer Segen und Fluch zugleich. „Es gab eine Chaosphase, wie sie anfangs normal ist“, gibt der Stabsleiter der Polizeidirektion West, Michael Scharf, zu. „Danach hat sich die Zusammenarbeit so gut wie möglich gestaltet.“ Die Babelsbergerin Gabi Franz hatte einen Anruf der Freundin der Mutter bekommen, ob sie bereit wäre, einen Versorgungspunkt für die Helfer zu organisieren. „Ich sagte spontan zu“, erzählt sie. Zehn Tage und zwei Nächte war sie auf den Beinen. Jetzt „macht sie den Cut“, wie sie sagt. Erschöpft sieht sie aus, und traurig. Wohl ein letztes Mal ist die Potsdamerin heute am Bürgerhaus. Um die übrig gebliebenen Lebensmittelspenden an ein soziales Ferienprojekt zu übergeben. Die Helfer brauchen keine Versorgung mehr, sie haben aufgegeben. „Es ist frustrierend“, sagt Gabi Franz, „wie gerne hätte ich einen Jungen im Arm seiner Mutter gesehen.“ Jetzt sei die Zeit gekommen, in der nur noch die Profis suchen sollen.

Die Polizei wertet 1000 Fotos und 300 Stunden Videomaterial aus

Jetzt setzen alle auf die Profis. Ihre intensive Suche hat die Polizei eingestellt. Im „Soko-Raum“ in der Henning-von-Tresckow-Straße werten Beamte weiter mehr als 1000 Fotos und 300 Stunden Videomaterial aus. Aus Tankstellen, Supermärkten. Bis zu 160 Beamte waren im Einsatz. Die Polizei hat an fast allen Türen im Schlaatz geklingelt, Schulkinder befragt. Sie hat an einer Stelle sogar das Flüsschen Nuthe ausbaggern lassen. Spürhunde haben fünf Spuren von Elias Richtung Nuthe entdeckt. Doch nichts. „Hautschuppen kann der Wind überall hinwehen“, sagt ein Experte. Sie suchten die Nuthe-Wiesen ab. Die Keller. Zuletzt die Schächte mit den Abwasser- und Stromleitungen unter den Plattenbauten. Auch die Hinweise werden weniger. „Heute waren bis mittags drei Bürger da“, sagt eine Beamtin. Bald wird wieder der Alltag einkehren im Schlaatz. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass Elias bald wieder da ist. So plötzlich, wie er verschwunden war.