Der Vorabeiter Muamet Farizi erkrankte an seinem Arbeitsplatz in den Hamburger Aluminium-Werken. Das Problem: Er muss selber nachweisen, dass er dort schädlichen Stoffen ausgesetzt wurde. Von Angelika Hillmer

Am 18. Januar 1992 geht Muamet Farizi wie üblich zur Arbeit in die Hamburger Aluminium-Werke (HAW) auf Finkenwerder. Als Vorarbeiter reinigt er die großen Tiegel, aus denen flüssiges Aluminium gegossen wird. Doch an diesem Tag fühlt er sich nicht gut, macht sich mit Bus und Bahn auf den Heimweg nach Lurup. Im Bus bekommt er Schweißausbrüche, ringt nach Luft. Etwas später, in der S-Bahn, werden die Beschwerden so stark, dass er in Eidelstedt aussteigt. Auf dem Bahnhof setzt er sich auf eine Bank, wird bewusstlos und kommt erst auf der Intensivstation des Krankenhauses Altona wieder zu sich.

Schnell wird klar: Der heute 65 Jahre alte Farizi hat an dem Tag eine sehr seltene Vergiftung erlitten. Als Folge wird das körpereigene Enzym Cholinesterase drastisch abgesenkt. Es spielt bei der Übertragung von Nervenimpulsen eine wichtige Rolle. Bei Farizi war das Enzym auf ein Zehntel des normalen Wertes gesunken. Neben Schwindelgefühlen und kaltem Schweiß ließ dies seine Lunge so stark verschleimen, dass der Notarzt sie mehrfach absaugen und Farizi künstlich beatmen musste.

Zwei Wochen blieb Farizi im Krankenhaus. Es war der Beginn eines langen Leidensweges. Der gebürtige Mazedonier, der sich 1971 von deutschen Behörden als Gastarbeiter anwerben ließ, hat seit dieser und einer weiteren Vergiftung im November 1992 körperliche Beschwerden durch beschädigte Nervenenden. Vor allem aber kämpft er darum, dass sein Leiden als Arbeitsunfall oder als Berufskrankheit anerkannt wird. Dies hat das Landessozialgericht Hamburg kürzlich endgültig verneint.

„Die aufgetretenen Symptome sind ein eindeutiges Zeichen für die Vergiftung mit organischen Phosphorverbindungen“, sagt der Arbeits- und Umweltmediziner Dr. W., der Farizi von Anfang an behandelte und anonym bleiben möchte. Diese sogenannten Organophosphate können auch als Nervenkampfstoffe (Sarin, Tabun) oder Pestizide (E 605) eingesetzt werden.

„Es ist durchaus plausibel anzunehmen, dass diese Substanzen damals am Arbeitsplatz in der Aluminiumgießerei entstanden waren und meinen Patienten vergiftet hatten“, sagt W. „Aber leider verlangt das Gesetz, dass der Betroffene dies zweifelsfrei nachweisen kann. Nach langer Krankheit war dies kaum mehr möglich.“ Andere Arbeiter seien erst ein Jahr später getestet und Messungen am Arbeitsplatz erst 1994 vorgenommen worden. Farizi hat mehrfach versucht, seine Arbeit wieder aufzunehmen, litt aber immer kurze Zeit später unter Vergiftungssymptomen. Sein Arzt schrieb ihn daraufhin unbefristet krank. Rund zehn Jahre nach den Ereignissen kündigte die HAW ihrem Vorarbeiter, der seit 1974 gern im Betrieb gearbeitet hatte.

Organische Phosphorverbindungen gehören nicht zu den Stoffen, die in der Alu-Produktion regelmäßig anfallen. Farizi und sein Arzt verdächtigen spezielle feuerfeste Materialien, die „Anfang der 1990er-Jahre auch in Metalltiegeln eingesetzt worden waren“, sagt der Arzt. Er hat keine andere Erklärung: „Es gibt keinerlei Hinweise, dass sich Muamet Farizi eine derartige Substanz selbst zugeführt hat. Und es spricht auch nichts dafür, dass ein Dritter ihm in krimineller Absicht zweimal, im Januar und im November 1992, eine solche Substanz verabreicht hat.“

Auch die Einwände des Gerichts, andere Kollegen hätten keine Vergiftungserscheinungen gehabt, kann der behandelnde Arbeitsmediziner kontern: „Genetische Untersuchungen haben gezeigt, dass Farizi die organischen Phosphorverbindungen besonders schlecht abbauen kann. Dadurch hatten die Substanzen bei ihm eine stärkere Giftwirkung als bei anderen Menschen.“

Die Tatsache, dass der Betroffene umfänglich beweisen muss, dass er am Arbeitsplatz vergiftet wurde, hält Arbeitsmediziner W. für einen Fehler in der gesetzlichen Regelung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Sinnvoller wäre seiner Meinung nach eine umgekehrte Beweislast, dass also der betroffene Betrieb nachweisen muss, ob eine Vergiftung möglich sein kann oder eben nicht.

Im Fall von Muamet Farizi kam ein weiteres, pikantes Problem hinzu: Die nachgestellten Labortests, die 17 Jahre nach den Vorfällen im Auftrag des Gerichts überprüfen sollten, ob Organophosphate am Arbeitsplatz entstanden sein könnten, führte ausgerechnet die Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie durch – die beklagte Partei in dem Gerichtsprozess.

Muamet Farizi kann das nicht verstehen und fühlt sich nicht ernst genommen: „Es geht mir nicht um Geld, um Entschädigung, ich möchte einfach nur, dass die Wahrheit ans Licht kommt“, sagt er. Am ersten April 2014 ging Farizi in Rente. Zuvor hätte er gern wieder gearbeitet, trotz körperlicher Einschränkungen. Noch heute erklärt er mit Eifer die Aluminium-Herstellung. Wären da nicht die jahrzehntelangen zähen Auseinandersetzungen und die Nervenschäden an den Füßen.

Er will weiter dafür kämpfen, die Ursache seiner Vergiftung dingfest zu machen. Farizi klammert sich an einen Strohhalm: Dr. Michael Binnewies, emeritierter Professor für Anorganische Chemie an der Universität Hannover, hat sich bereit erklärt, die damalige Arbeitssituation in der Tiegelreinigung der Aluschmelze im Labor nochmals nachzustellen, und verlangt dafür kein Honorar. Allerdings würden die anschließend notwendigen chemischen Analysen einige Hundert Euro kosten – die hat Muamet Farizi nicht.

Die Hamburger Abendblatt-Initiative „Von Mensch zu Mensch“ wird hier helfen und diese letzte mögliche Chance zur Aufklärung des Vergiftungsfalls finanzieren.