Sie sind oft unauffällig und alleine mit ihrem Leid: Kinder von psychisch kranken Eltern. Eine Mutter und ihre Tochter erzählen ihre Geschichte. Sie haben die Wende und einen Neuanfang geschafft

Christina Habenicht sagt, Yvonne sei ein sehr starkes Mädchen. „Viele, die so ein Schicksal erleben, zerbrechen daran. Yvonne nicht, sie ist nie umgefallen, sondern gestärkt herausgegangen“, sagt die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Fünf Jahre hat sie Yvonne und ihre Mutter Linda K. (Namen geändert) intensiv unterstützt und begleitet. Sieben Jahre war das Mädchen alt, als es zu ihr in die Erziehungsberatung der Caritas kam – heute arbeitet Habenicht bei der Diakonie.

Inzwischen ist Yvonne erwachsen, gerade 18 geworden. Eine zarte Person, mit langen, schönen Haaren und einem offenen Lächeln. Sie hat den Kontakt zu der Erziehungsberaterin gesucht, wollte sich für die Jahre der Begleitung bedanken, ihr zeigen, dass es ihr gut geht. Keine Selbstverständlichkeit. Denn Stetigkeit im Leben, eine verlässliche, zugewandte Mutter, Geborgenheit und Tage ohne Sorgen – all das, was zu einer Kindheit gehören sollte, hat Yvonne nie erlebt.

Ihre Mutter, 34, war viele Jahre lang krank. So krank, dass sie ihre Tochter zeitweise nicht erziehen konnte. Schwere Depressionen quälten sie, dazu eine Agoraphobie, das bedeutet eine panische Angst vor der Außenwelt. Über viele Jahre hat Yvonne ihre alleinerziehende Mutter häufig schlafend und sprachlos erlebt. Sie hat ihre Mutter in der Psychiatrie besucht und musste zeitweise in Pflegefamilien leben. Sie hat Ängste ausgestanden und viele Sorgen um ihre Mutter gehabt. Das ist vorbei – aber nicht vergessen.

Die 18-Jährige lehnt ihren Kopf an den ihrer Mutter. Es ist ein Moment tiefer Innigkeit zwischen den beiden, und man möchte kaum glauben, wie viele Jahre voller Tiefen die beiden zuvor erlebt haben. Ihre traurige Geschichte hat einen guten Ausgang. Und es war beiden ein Bedürfnis, diese Geschichte zu erzählen – die einer psychisch kranken Mutter und eines mit der Situation überforderten Kindes. „Ich möchte damit an andere Eltern in dieser Situation appellieren, sich frühzeitig Erziehungshilfen zu holen. Ich hätte sonst Yvonne nicht behalten können“, sagt Linda K., die viel Unterstützung von Hamburger und Schleswig-Holsteiner Jugendämtern bekam.

Linda K. ist 15 Jahre alt und in der neunten Klasse, als sie Yvonne bekommt. Mit ihrem Freund ist sie damals schon länger zusammen, für beide kommt es nicht infrage abzutreiben. Die Schwangerschaft verläuft mitten in der Trennung der Eltern, zwei Pädagogen. „Ich wollte meine eigene kleine Familie“, sagt Linda K. rückblickend. Die Beziehung zu ihrem Freund zerbricht nach der Geburt des Kindes. Ihre Mutter vermittelt sie an eine Mutter-Kind-Einrichtung. Zehn Monate ist Linda K. dort, mit 16 zieht sie in eine eigene Wohnung. „Ich war alleine und vollkommen überfordert mit dem Kind“, sagt sie. Dennoch kann sie es versorgen und nebenher noch ihren Realschulabschluss nachholen.

Doch in einem schleichenden Prozess geht es ihr immer schlechter. „Ich verlor zunehmend die Struktur in meinem Leben. Frühstück machen, kochen, waschen, das habe ich alles nicht mehr hinbekommen“, sagt Linda K. Mit der Konsequenz, dass Yvonne schon als kleines Kind viel auf sich allein gestellt ist. „Ich habe viel alleine gespielt. Wir haben nie was unternommen. Meine Mutter war immer sehr schwach und schläfrig“, erinnert die Tochter sich. Zumindest ist sie von Beginn an in einer Tagesbetreuung. „Mir war immer wichtig, dass Yvonne gut untergebracht war“, sagt Linda K.

Das kleine Mädchen schafft es lange, völlig unauffällig den Alltag zu bewältigen. Schon als Fünfjährige stellt es sich selbst morgens den Wecker, zieht sich an, macht sich ein Frühstück, ein Schulbrot und geht zur Vorschule. „Das Schlimmste war, dass meine Mutter nie mit mir gemeinsam gegessen hat, sondern höchstens dabeisaß. Manchmal fragte ich sie schon, warum sie nie etwas für mich kochte, mich nie zur Schule brachte wie andere Eltern.“ Ein Gute-Nacht-Ritual gibt es nicht. „Du kamst manchmal ins Wohnzimmer und hast dir einen Gute-Nacht-Kuss abgeholt“, sagt Linda K. traurig. Sie weiß, welches einsame Leben sie ihrem kleinen Kind zugemutet hat. „Es ist häufig so, dass die Kinder die Krankheit ihrer Eltern verdecken und völlig unauffällig sind“, sagt Habenicht.

Als Yvonne sieben ist, lässt ihre Mutter sich in die Psychiatrie einweisen – und benachrichtigt von dort das Jugendamt. „Das war ein mutiger Schritt von Linda K. Denn es fällt vielen Kranken schwer, mit ihren Problemen so offen umzugehen. Die Angst vor dem Verlust des Kindes ist ja immer da“, sagt Christina Habenicht. Linda K.s Offenheit und ihre Bereitschaft, an sich zu arbeiten, überzeugen das Jugendamt, Yvonne bei ihrer Mutter zu lassen und ihr eine „Hilfe zur Erziehung“ in Form von Frau Habenicht an die Seite zu stellen. Damals ist es noch neu, dass auch die Kinder von psychisch Erkrankten therapeutische Unterstützung bekommen. „Lange hat man sich nur um die Erwachsenen gekümmert und die Situation der Kinder dabei nicht im Blick gehabt“, sagt die Therapeutin.

Für Yvonne bringt das Stabilität und Verlässlichkeit ins Leben. Das schüchterne Mädchen fiebert den wöchentlichen Treffen entgegen. „Endlich hatte ich jemanden zum Reden, sie war immer für mich da. Ich konnte Frau Habenicht alles erzählen, und sie hat mir erklärt, was mit meiner Mutter los ist“, sagt Yvonne. Auch wenn sie sonst keine Struktur im Leben hat, sorgt Linda immer dafür, dass Yvonne zur Therapie kommt. „Da ich aber Platzangst hatte, sind wir häufig zu Fuß gelaufen“, sagt Linda K. Das heißt oft mehr als zwei Stunden hin und zwei Stunden zurück. Eine Tortur. 2005 geht Linda K. erneut in eine Klinik, ihre Tochter kommt zu einer Bekannten in Pflege.

Zurück bei der Mutter erlebt sie, wie diese in der Küche steht und sich ritzt. „Das war das Allerschlimmste für mich und hat mich so verängstigt. Ich habe nicht verstanden, warum Mama sich verletzt hat“, sagt Yvonne und fängt an zu weinen. „Ich war immer wieder suizidal“, sagt Linda K. Im Rückblick sieht auch die Therapeutin, dass die Situation in dieser Zeit grenzwertig ist: „Yvonne wollte bei ihrer Mutter bleiben. Das Jugendamt, die Erziehungsberatung und die ambulante sozialpsychiatrische Betreuerin der Mutter haben in dieser Zeit eng zusammengearbeitet.“

Doch nur ein Jahr später eskaliert die Situation. In einer Kurzschlussreaktion fährt Linda nach Rostock, die Heimatstadt ihres damaligen Freundes, um sich dort in die Psychiatrie einweisen zu lassen. In Hamburg hätte es keinen Platz gegeben, sagt sie. Auch in Rostock findet sie keine Hilfe. Doch statt zurück nach Hamburg zu fahren, bleibt sie über Nacht dort – ohne ihrer acht Jahre alten Tochter Bescheid zu geben. „Ich habe in der Nacht nicht geschlafen, ich hatte solche Angst“, sagt Yvonne, die sich einer Lehrerin anvertraut. Das Jugendamt greift ein, das Kind kommt vorübergehend zu einer Erzieherin, dann für ein Jahr zu Pflegeeltern. „Das hat mich vollkommen überfordert“, erzählt Yvonne. „Mama hat alle meine Sachen eingepackt und gesagt, ich komme erst mal nicht in die Wohnung zurück. Ich dachte, ich verliere meine Mutter.“ Wieder eine neue Umgebung, neue Freunde. Doch sie fühlt sich wohl bei den Pflegeeltern. Sie erfährt, was ein geregeltes Leben bedeutet – warmes Mittagessen, Ausflüge, Spaß. „Ich durfte Freunde zu mir einladen.“ Dennoch vermisst sie ihre Mutter sehr. Nach einem Jahr ist die Pflegezeit abgelaufen, das Jugendamt will Yvonne in ein Heim geben, denn die Mutter ist wieder in der Psychiatrie. „Zum Glück ist dann meine Mutter eingesprungen und hat Yvonne bei sich aufgenommen“, sagt Linda K.

Endlich geht es ihr besser. Sie hat eine neue Beziehung, bekommt ein weiteres Kind, einen Sohn, und zieht in die Nähe ihrer Tochter nach Schleswig-Holstein. Das Jugendamt dort lässt Yvonne zurück zur Mutter. „Wir standen unter sehr enger Beobachtung, hatten viele Auflagen und Helfer. Das war sehr gut für uns, denn ich war doch ziemlich unsicher“, sagt Linda K.

Sie wird gesund. Und Yvonne und sie erleben zum ersten Mal Familienglück. „Eben ein normales Leben“, sagt Yvonne. Sie gibt allerdings zu, dass sie zwischendurch eifersüchtig auf ihren kleinen Bruder war. „Er nahm so viel von Mamas Zeit in Anspruch, ich wollte doch endlich mal mit ihr reden.“ Statt flügge zu werden, klammert sich die damals 14-Jährige an ihre Mutter. Erst langsam bekommen die beiden ein „gesundes Verhältnis“ zueinander. Sie sprechen sich aus. Nehmen dankbar psychologische Hilfe in Anspruch – es gibt so viel nachzuholen.

Erstaunlicherweise ist Yvonne nicht wütend, sondern stolz auf ihre Mutter. „Ich bin stolz, dass sie es geschafft hat, gesund zu werden. Sie konnte ja nichts für ihre Krankheit“, sagt Yvonne und schaut ihre Mutter liebevoll an. „Und ich bin froh, dass du dich trotz allem so toll entwickelt hast. Ich glaube, wenn ich keine Hilfe gehabt hätte, wärst du mir verloren gegangen“, sagt Linda K. und fügt leise hinzu, „zwischendurch warst du ja auch weg.“ Sie quält nach wie vor ein schlechtes Gewissen, die Erinnerung an die verlorenen Jahre mit ihrer Tochter schmerzen. Inzwischen ist Yvonne recht unabhängig. Sie macht nächsten Monat ihren Realschulabschluss, hat Freunde und beginnt im Herbst mit einer Lehre. „Ich bin glücklich, und ich freue mich auf meine Zukunft“, sagt sie sehr ernst.