Die Kieler Straße ist Dauerbaustelle, Staufalle, Asphaltungetüm. Sie ist ein Beispiel für den Albtraum der autogerechten Stadt. Matthias Iken und Bertold Fabricius (Fotos) haben sich zu Fuß auf den Weg gemacht.

Gäbe es ein Anti-Diskriminierungsgesetz für Städte, vermutlich hätte Kiel die Hansestadt längt vor den Kadi gezerrt. Nicht allein, dass das im Norden als notorisch überheblich verschriene Hamburg eine seiner hässlichsten Magistralen „Kieler Straße“ getauft hat, nein, sie lässt die Bundesstraße 4 nach gut sechs Kilometern einfach in der Holsteiner Chaussee aufgehen. Nur ein Hundertstel der B 4, die Schleswig-Holstein mit Nürnberg verbindet, ist nach dem ehemaligen Ziel Kiel benannt. Allerdings, so werden die Verteidiger einwerfen, kann die Straße mit einem Superlativ aufwarten – bis zu 58.000 Fahrzeuge wälzen sich täglich über die sechs Spuren südöstlich der Autobahn. Wandern an der Kieler Straße? Das klingt nach einem inneren Widerspruch wie Exerzitien auf der Reeperbahn oder Bergsteigen in Schleswig-Holstein. Wir haben es trotzdem gewagt.

Am Anfang war die Erdbeere. Vor der Glasfassade des Eidelstedt Centers an der Kieler Straße, wo die Hausnummern längst in den 700ern notieren, duckt sich eine rote Bude. Es ist einer der typischen Verkaufsstände des Erdbeerhofs Glantz, die im Frühsommer zum Straßenbild der Stadt gehören wie Nieselregen oder Cabrios. Vor der Erdbeere stehen die Eidelstedter Schlange, in der Erdbeere steht Birgit Unger. „Hier ist immer gut zu tun“, ruft sie, während im Hintergrund die Presslufthämmer rattern. Nicht nur die Kieler Straße, auch der Platz vor dem Einkaufszentrum ist eine Baustelle. Und ihr Arbeitsweg – für nicht einmal vier Kilometer von Schnelsen benötigt Birgit Unger derzeit rund eine halbe Stunde. Es war schon einfacher, Erdbeeren, Himbeeren, Kirschen oder Brombeeren zu verkaufen.

Der Eidelstedter Platz bekommt ein neues Gesicht. Grund ist das Busbeschleunigungsprogramm, das Hamburgs Busse für viel Geld ein wenig schneller machen soll. Da die Kieler Straße derzeit an vielen Stellen aufgerissen wird, fällt eine Baustelle mehr oder weniger nicht mehr groß auf. Nur die Einzelhändler an der Straße spüren jede Verkehrsbeeinträchtigung sofort. Fallen Parkplätze weg, meiden Autofahrer die Straße wegen Staugefahr, beginnen die Umsätze zu sinken. Viele Läden an der Kieler Straße stehen leer, sind verrammelt oder courtagefrei zu mieten. Mit jedem Meter Entfernung vom Eidelstedt Center wird die Situation für die Händler schwieriger. Nur die Cleveren überleben – oder die, die Geschäft längst neu denken. Sie verwandeln sich in Internethändler mit angeschlossenem Schaufenster.

Robbie Williams steht in Höhe der Hausnummer 657 und starrt auf die Kieler Straße. Die Sonne hat ihn erblassen lassen. Robbie ist von Pappe – ein kleiner Aufsteller im Schaufenster von Hendrik Ahl inmitten ausgelatschter Schuhe (zehn Euro) und unversehrter Luftpolstertaschen (20 Cent). „Wir kaufen Schallplatten“, heißt der Laden, an der Tür klebt ein Schild: „Hier können Sie noch mit der guten alten D-Mark bezahlen“. Das Geschäft wirkt wie aus der Zeit gefallen und geht doch mit ihr: Geöffnet ist nur noch nachmittags; montags und dienstags schließt Ahl ganz. Dafür macht er Hausbesuche und handelt über Amazon und Ebay. Schallplatten laufen längst besser als die Silberlinge; zwei Drittel seiner Umsätze macht Ahl mit Vinyl, nur ein Drittel mit CDs. Er handelt Meterware Rock und Pop genauso wie Raritäten. Das Round Cover des David-Bowie-Albums „The Man Who Sold the World“ brachte 450 Euro, erzählt Ahl. Man kann aber auch für Heiermänner aus der Spardose die Helden seiner Jugend kaufen. „Ich wundere mich immer wieder, wie viele Menschen noch D-Mark haben“, sagt Ahl. Einmal im Jahr muss er einige Hundert Mark gegen Euro in der Landeszentralbank tauschen.

„Hier ist die Linke“, verspricht ein Schild und weist ausgerechnet nach rechts. Im Hinterhof findet sich ein „Office-Kontor“, das man aus Reportagen über „Briefkästenfirmen“ zu kennen meint. Viele Geschäfte, leider keine Politik. Die Linke ist ausgeflogen. Immerhin ist die Lage so „authentisch“ wie verkehrsgünstig. Und Asien liegt gleich um die Ecke.

Im Punjab-Shop, Hausnummer 631, riecht es nach Mittlerem Osten, es sieht aber aus wie eine Aldi-Filiale der 70-er. Fahles Licht, enge Gänge, vollgestopfte Regale. In diesem indisch-pakistanischen Supermarkt geht es nicht ums Einkaufserlebnis, sondern um ein Riesenangebot an Gewürzen, Tee, Reis. Wer für Abenteuer jenseits von Bohneneintopf und Sauerkrautauflauf offen ist, dem erschließt sich eine chaotische Wunderwelt. Im Punjab-Shop gibt es importierte Maggi-Kokusnuss-Milch neben Taj-Mahal-Tüchern, schrillen Schmuck neben Chili-Sauce. Und Filme aus der indischen Traumfabrik Bollywood, im Angebot ab 99 Cent. „Wir haben Heimweh-Kunden genauso wie deutsche Anwohner“, sagt Khan Irfan, der seit zwei Jahren im Punjab-Shop arbeitet und selbst aus Pakistan stammt. Seit 1992 ist er in Deutschland. Welcher Mannschaft er bei der WM die Daumen drückt? „Deutschland, wem sonst?“, fragt er überrascht. Das Sommermärchen, es ist noch nicht vorbei.

Überhaupt: Der Fußball. Brasilien mag 9500 Kilometer entfernt liegen, in der Kieler Straße ist es ganz nah. Unzählige Autos tragen nicht nur Fähnchen oder Spiegelüberzieher, sondern auch Magnetflaggen und schwarz-rot-goldene Klebespoiler. Aus 25 Fenstern zwischen Pinneberger Chaussee und Holstenstraße flattern die Nationalfarben, viermal grüßen Portugals Farben, zweimal die Griechenlands und Brasiliens. Viele Restaurants, Kneipen, Autohändler und Coffeeshops zeigen Flagge. Bei einem Möbelgeschäft gibt es sogar Sesselpolster mit schwarz-rot-goldenem Emblem auf schwarzem (!) Grund und mit vier aufgedruckten Jahreszahlen: 1954, 1974, 1990 und 2014. Wenn es die mal nicht bald billiger gibt ...

Im Hinterhof liegt das Fegefeuer für Kinderhasser. Zumindest werden es einige für die Vorhölle halten, wenn bis zu 800 Halbwüchsige durchs Rabatzz toben. Seit zehn Jahren hat das frühere Straßenbahndepot an der Kieler Straße 571 eine neue Nutzung als größter Indoor-Spielplatz der Stadt bekommen. Auf 3500 Quadratmetern werden Kinderträume wahr, egal ob auf der 32 Meter langen Wellenrutsche, im Hochseilgarten oder auf dem Rodeo-Pferd. Bunt, schrill, wild, laut – ein bisschen sieht das Rabatzz aus wie Pippi Langstrumpf in einer Super-RTL-Version. Inzwischen öffnet der Hallenspielplatz zusätzlich an drei Vormittagen die Woche für Schulen und Kindergärten sowie einmal pro Monat in der Nacht zur Übernachtungsparty. „Am ruhigsten ist es am Sonntagvormittag“, verrät Tanja Siek. „Dann kommen vor allem alleinerziehende Väter.“ Sie hat einst an der Kasse des Rabatzz angefangen und sich inzwischen zur Betriebsleiterin hochgespielt. „Das ist mein Traumjob. Wo sonst ist man von so vielen gut gelaunten Menschen umgeben?“

Das Kinderland muss Anwohnerklagen nicht fürchten. Es gibt kaum Anwohner, auch wenn vereinzelt Altbauten, die der Bombenkrieg übrig ließ, an andere Zeiten erinnern. Die wohlklingenden Namen der Stichstraßen wie Försterweg, An der Feldmark oder Pelikanstieg klingen wie Schönfärberei. „Anlageobjekte mit Entwicklungspotenzial“ zeugen vor allem von der Fantasie wortmächtiger Makler. Immerhin hat der Baumarkt an der Autobahnabfahrt Besitzer und Farbe gewechselt – von Max-Bahr-Gelb zu Bauhaus-Rot.

Nach zwei Kilometern überqueren wir die A 7. Mal wieder staut sich der Verkehr vom Elbtunnel zurück bis Stellingen. Als Kinder verweilten wir, wir liebten es, von der Brücke den Autofahrern zuzuwinken. Als Erwachsene spürt man Fluchtreflexe. Der Beton bebt und ächzt mit jedem Mehrtonner, der über die Brücke donnert. Wer sich an das Geländer lehnt, dessen Lack längst abgesplittert ist, benötigt nicht nur viel Gottvertrauen, sondern auch Zutrauen in deutsche Ingenieurskunst. Letztere hat mächtig gelitten – von über 5000 Autobahnbrücken in Deutschland sind Schätzungen zufolge 3000 nicht mehr voll funktionsfähig. Die nächste Baustelle kommt bestimmt.

Kurz darauf wirbt ein Plakat für eine Bürgeranhörung, um „Ideen für Stellingen“. Zumindest eine Idee beginnt sich in Hamburg Bahn zu brechen. Ein neuer Radweg schließt sich an einen alten an und ist 30 Zentimeter breiter. Und sie bewegt sich doch, die Verkehrspolitik, wenn auch zentimeterweise.

Deutlich schneller geht es in der Wohnungsbaupolitik: Am Sportplatzring soll die ehemalige Kampfbahn Stellingen zur neuen Heimat für 500 Hamburger werden, auf der 37.000 Quadratmeter großen Fläche sollen 150 bis 200 Wohnungen entstehen. Schon seit März ist die Kreuzung eine Großbaustelle, bis Ende des Jahres wird weitergebaggert, mindestens. Das Viertel kann neues Leben gebrauchen: Leerstand reiht sich an Leerstand, man wähnt sich auf einer Trasse der Träume in Trümmern. Am völlig verbauten Platz an der alten Volksparkstraße wuchert das Unkraut – ein griechisches Restaurant hält unverdrossen dagegen. Man möchte der Kieler Straße die von einem Fitnessstudio angepriesene „Drei-Komponenten-Molkeprotein-Matrix“ in hohen Dosen verabreichen – zum Muskelaufbau.

Plötzlich steht da der „Kleine Onkel“, das Pferd von Pippi Langstrumpf, vor Hausnummer 399. Eine Giraffe reckt den Hals Richtung Baustelle, ein Gorilla versteckt sich im Dickicht. Was aussieht wie die Werbung für Hagenbeck, ist das Geschäftsmodell der Firma C-Form. Nicht nur die Tiere sind aus Plastik, auch die Pflanzen. Und sehen täuschend echt aus. Im Laden möchte man Brombeeren (4,90 Euro) naschen, am Salatherz (23 Euro) riechen, in die Peperoni (8,50 Euro) beißen. Die Kunstpflanzen liegen nicht nur in den Obstschalen, sie wachsen als Bäume bis zu acht Meter in den Himmel. „Palmen und Bonsai bauen wir selbst“, sagt Peter Wiedemann, der Mann hinter C-Form. „Die Stämme sind echt, dann kleben wir Textilblätter ein“. Abnehmer sind nicht nur Gaststätten oder Privatleute mit Wintergarten, sondern auch Filmproduzenten. Selbst extrem pflegeleichte Tiere hat der Kaufmann im Angebot, eine Kuh kostet rund 1000 Euro. „Ich hatte schon einen Käufer, der sich einen Bullen auf den Balkon gestellt hat, nur um seinen Nachbarn zu ärgern.“ Die Kunsttiere gefallen einigen mehr, als Wiedemann lieb ist. „Zweimal wollten Besoffene mir schon das Pferd klauen“ – nun ist der Rücken des „Kleinen Onkels“ mit Nägeln gespickt.

Gleich gegenüber hat sich ein Stück Vergangenheit in die Zukunft hinübergerettet. Seit 1967 schneidet Holger Brix in seinem Laden Nummer 396 die Haare seiner Kunden – mit Schere und Schaum, ohne Schnick und Schnack. Der Salon heißt schlicht „Herren-Friseur“. Als Brix seinen Laden eröffnete, waren große Teile der A 7 noch im Bau, der Elbtunnel existierte nur auf dem Papier. „Damals sah die Kieler Straße noch ganz anders aus“, sagt Brix nicht ohne Wehmut. „Sie war schmaler und angenehmer“, in der Nachbarschaft gab es Bäcker, Schlachter, Krämer. „Heute kommt man ja kaum noch über die Straße.“ Auch die Nachbarschaft – Brix wohnt im selben Haus – habe sich verändert: „Früher war das Miteinander familiärer, die Schlüssel lagen einfach unter der Fußmatte. Heute haben viele Panzerriegel.“ Der Salon trotzt den Veränderungen, ein Haarschnitt kostet seit Jahren zehn Euro, Sohn Jan arbeitet längst im Geschäft mit. So viel Tradition ist selten geworden an der Kieler Straße.

Es bedarf einer blühenden Fantasie, sich die Kieler Straße in alten Zeiten vorzustellen. Längst hat sie jegliches menschliches Maß verloren. Als Verkehrsweg begann ihre Geschichte 1830, schon damals zweispurig, damit entgegenkommende Fuhrwerke einander nicht ausweichen mussten. 1932 wurde sie zur Fernstraße 4 Kiel–Nürnberg. Das Ideal der autogerechten Stadt und die A 7 entstellten sie zur Trasse. Mancherorts erinnert sie sechsspurig an eine Autobahn, dort, wo sie vierspurig ist, wirkt sie noch immer wie eine Umgehungsstraße. Die Kieler Straße lebt vom Auto und mit dem Auto; stürbe es aus, würde sie mit ihm vergehen.

Der traditionsreiche Campingplatz Buchholz, Hausnummer 374, lebt von seiner „sehr günstigen Verkehrsanbindung“. Man ist schnell in der Stadt – und auf den im Hinterhof gelegenen 28 Stellplätzen zwischen Thuja-Hecken und Buchen ist es gemütlich und überraschend leise. Der Sound der Straße, er verstummt rasch. Viola und Ehrenfried Baumgarten aus Naumburg haben es sich vor ihrem Wohnmobil bequem gemacht und blinzeln in die Sonne. „Wir sind im Internet auf den Platz aufmerksam geworden. Erst hatten wir es ruhig im Alten Land, nun wollen wir noch fünf Tage in Hamburg genießen“, sagen sie. Die Straße stört sie nicht, sie wollen schnell in die Stadt radeln. Im Camping-Café haben sie sich erste Tipps geholt – Fischmarkt, Speicherstadt, Alter Elbtunnel, Övelgönne. Viel günstiger als in Stellingen kann man in der Hansestadt kaum absteigen – 25,80 Euro kostet die Übernachtung im Wohnmobil für zwei Erwachsene. „Wir nehmen keine Kurtaxe“, heißt es stolz auf dem Campingplatz. Was klingt wie ein Scherz, hat einen realen Hintergrund: Schon in Schnelsen-Nord wird die deutscheste aller Abgaben fällig. An der Kieler Straße geht es international zu – hier zelten heute Russen, ein Schweizer Paar campiert daneben.

Es dauert einige hundert Hausnummern, bis es dem Wanderer auffällt: Irgendetwas fehlt. Es fehlen Balkone, es fehlen Blumenkästen vor den Fenstern, es fehlt jede Ausrichtung auf die Straße. Wo Wohnhäuser stehen, scheinen sie sich von der Straße abzuwenden. Das Leben geht nach hinten raus – oder in die Seitenstraßen, die schon wenige Meter von der Kieler Schneise entfernt überraschend anheimelnd wirken. Die Kieler Straße ist ein besonderes Biotop – ein Lebensraum für Discounter und Supermärkte, Möbelhäuser und Tankstellen, Schnellrestaurants und Lieferservices. Es sind gesichtslose Zweckbauten, die überall und nirgends stehen könnten, die, einmal entworfen, überall in der Republik reproduziert werden.

Die Kieler Straße ist eine Magistrale der mobilen Gesellschaft. Gleich mehrere Storage-Anbieter („Mein Platz für mehr Platz“) vermieten Stauraum. Hier kann man sein verlassenes Leben unterstellen, den Sperrmüll von morgen heute kostenpflichtig zwischenlagern. Die Straße als Spiegel der Gesellschaft: Wie sehr das Land auf den Hund gekommen ist, zeigt ein Supermarkt für Tierfutter neben dem nächsten. Oder: Eine der zahlreichen Tankstellen verkauft Eiswürfel. Früher hatte man die im Eisfach. Oder: Bei McDonald’s gibt es die Publikation „Jobs-Kompakt“ mit der Titelgeschichte: „Zu dick – Diskriminierung: Sie können sich wehren“. Wenn sie zu dick sind, können sie auch einfach anderswo essen gehen.

Wie sehr die Deutschen ihr Auto lieben, beweisen die Waschstraßen. Zärtlich bewirbt ein Anbieter seine „Car Cosmetic“: „Mit weichem Lammfell, sanfter geht’s nicht“. Eine andere steht mit dem Hamburger Idiom auf Kriegsfuß und sagt „Herzlich willkommen zum Selber Buzze“. Georg Lemke steht in Box 3 und putzt sein Auto ab – einen Mercedes 300 SL, Baujahr 1986. „In den anderen Waschstraßen wird das Dach nass, deshalb reinige ich es lieber per Hand, das ist schonender“, sagt der ehemalige Schiffsmakler. Das Dach ist eine Sonderanfertigung, das Auto wäscht er wöchentlich. Auf Hamburgs Straßen kommt das Schmuckstück nur im Sommer. Wie es da, frisch geputzt, auf dem Parkplatz in der Sonne glänzt, versöhnt es auch den Kieler-Straßen-Bummler wieder mit dem Auto an sich.

Die Kieler Straße läuft nun auf den Eimsbütteler Marktplatz zu, die Hinterhöfe der Altbauten von Eimsbüttel und Altona grüßen aus der Ferne wie aus einer anderen Welt. An der Einfallstraße sind in den vergangenen Jahren viele Neubauten hochgezogen worden, vor allem Hotels. Die nächste Baustelle wartet vor dem Hotel Helgoland.

„Das ist schon ein bisschen blöd“, sagt Marion Grimm, die Geschäftsführerin des Hauses. „Einige unserer Gäste können uns nicht anfahren, weil die Navis angesichts der Baustellen kapitulieren.“ Das Hotel Helgoland, 1973 gegründet, profitiert von Hamburgs neuer Hippness. „Früher war es am Wochenende oft ziemlich leer, nun reisen viele Touristen an.“ Die neue Konkurrenz in der Straße sieht sie ganz gelassen: „Die Gäste kommen dahin, wo viele Hotels sind.“ Treiber des Geschäftes sind vor allem die Musicals, es ist aber auch der bunte wie laute Veranstaltungsreigen von Harley-Days bis Hafengeburtstag. Selbst der Schlagermove dröhnt bis zur Kieler Straße. „Die ein oder andere Zimmertür hat darunter gelitten“, lacht Grimm. Hauptsache, die Fenster halten – sie sind vierfach verglast.

Wer sich vom Motel One, dem Ibis oder vom Helgoland aus ins Nachtleben stürzen will, findet an der Kieler Straße 148 einen ersten Anlaufpunkt. Seit über 50 Jahren, die uralten Jever-Schmuckfliesen hinter der Theke künden davon, ist in dem Altbau eine klassisches Kneipe untergebracht. Die „Bier-Kate“ ist der erste Ort, an dem sich keiner über Baustellen beschwert. „Die Baustelle stört uns nicht. Wenn man jahrzehntelang nichts macht, dann muss man halt mit Gewalt ran“, sagt die Frau am Bierhahn, zu der alle nur „Laila“ sagen. Eine Deutschland-Mütze hängt lässig über der Zapfanlage, auf dem Tresen stehen Salzstangen, im Fernsehen läuft Fußball. Es ist eine Kneipe, die es einstmals tausendfach in der Stadt gab und nun auf die rote Liste gehört. Seit der Jahrtausendwende hat die Zahl der Schankwirtschaften in Hamburg um 46 Prozent abgenommen. „Zur nächsten Kneipe muss man inzwischen den Bus nehmen“, so Laila.

Wir gehen zu Fuß. Vor uns liegt die Kreuzung Kieler Straße/Eimsbütteler Marktplatz, die nicht nur viele Autofahrer überfordert, sondern offenbar auch die Verkehrsplaner. Der neue Fahrradweg ist durch Gitter schon wieder abgesperrt, immerhin wirkt die Kreuzung wie eine Schleuse, die den letzten Teil der Kieler Straße etwas entlastet – aus sechs werden nur vier Spuren, die Bebauung wird urbaner, mehr Grün entlastet Ohren, Augen und Lungen der Wanderer. Ausgerechnet an der Kieler Straße 54a taucht unvermittelt ein Dorf aus Holzhäusern auf.

Hütten mit Fensterläden und Blumenkästen, Holzhäuser mit Veranda und ein Leuchtturm komplett aus Fichte – was wirkt wie eine Öko-Kommune oder ein dänisches Feriendorf, ist die Ausstellungsfläche der Firma Grave. Hier gibt es Gartenhäuschen zu kaufen oder ganze Eigenheime sowie speziell auf die Hamburger Kleingartenverordnung abgestimmte Holzhütten – die Raumwunder sind bis zu 3,60 Meter hoch, 24 Quadratmeter groß und kosten mit Aufbau rund 18.000 Euro. „Holz ist nachwachsend, natürlich und hält bei guter Pflege extrem lange“, sagt Handelsvertreter Thomas Straatmann. Was Holz kann, zeigt die Musterhausaustellung. Schlecht zu sprechen ist Straatmann auf die ‚Geiz-ist-geil-Mentalität’ einiger Kunden, die sich ausgiebig beraten lassen, um dann im Internet zu bestellen. „Aber spätestens wenn der Spediteur die Bauteile vom Laster kippt, merken die, was Service heißt.“

Das Internet beschäftigt jeden Einzelhändler vom Schallplattenverkäufer bis zum Holzhausbauer. Wie sehr es das Bild der Stadt verändern wird, wie viele Geschäfte überhaupt bleiben, ist unabsehbar. Die Kieler Straße gibt erste Hinweise darauf, dass das Netz die Städte nicht schöner macht. Auch im unteren Teil der Kieler Straße frisst sich der Leerstand durch die Erdgeschosse.

Auf dem Parkstreifen vor dem Haus Nummer 13 steht seit 18 Jahren die Luft-Messstation – sie erfasst, wie viele Schadstoffe die Kieler Straße verdrecken. Besondere Probleme machen die Stickoxide aus den Auspufftöpfen, die häufiger den Grenzwert überschreiten, als die EU erlaubt. An dieser Messstation könnte sich das Schicksal von City-Maut und Umweltzone entscheiden. Die Anwohner geben sich entspannt. Dietrich Köplin lebt seit 1966 hier. Er kennt noch die Zeiten, als Achtzehntonner vor einfachverglasten Fenstern vorbeibrausten. „Seitdem die Verkehrsführung neu geregelt wurde, ist dieser Abschnitt doch fast zu einem Kurort geworden“, lacht Köplin. Die Ladenzeilen hätten sich komplett gewandelt: „Früher hatten wir viel deutsche Gastronomie, Bäcker und Schlachter. Die sind leider alle weg.“ Und doch ist für ihn die Kieler Straße ein geliebtes Stück Heimat geworden. „Wir haben ein nettes Haus und einen tollen Hinterhof.“

Neue Nachbarn könnten schon bald hinzukommen. Dort, wo die Kieler Straße in der Stresemannstraße mündet, dürfte das Eckgrundstück zeitnah bebaut werden, ein paar Meter weiter wächst ein Rohbau. Es scheint, als ob die unwirtliche Schneise, die Stadtplaner einst durch Altona-Nord, Eimsbüttel, Schnelsen und Eidelstedt frästen, eines Tages wieder zu einem lebenswerten Stück Stadt werden könnte.