Ashraf O. sollte nach Ungarn abgeschoben werden. Innerhalb weniger Minuten entschloss sich die Jüdische Gemeinde Pinneberg, ihm Asyl zu gewähren: „Welche Religion er hat, ist mir egal“, sagt deren Vorsitzender.

Ashraf O. rollt seinen Gebetsteppich aus. Wie jeder gläubige Muslim betet er fünfmal am Tag in Richtung Mekka. Der Ort des Gebets ist ungewöhnlich für einen Muslim: Ashraf O. betet derzeit in der Synagoge der Jüdischen Gemeinde Pinneberg. Die jüdische Gemeinschaft hat ihm Kirchenasyl gewährt. Denn der Sudanese sollte aus Buchholz in der Nordheide (Landkreis Harburg) nach Ungarn abgeschoben werden.

Dorthin will Ashraf O. nicht zurück: „Ich war eine Woche in Ungarn“, sagt der 33-Jährige. „Zur Begrüßung kam ich ins Gefängnis. Im Lager Debrecen bekam ich mit einem Schlagstock einen Hieb in den Magen. Ich will lieber im Sudan sterben, als noch einmal nach Ungarn zurückzukehren.“

Seit einer Woche lebt Ashraf O. jetzt im Gemeindehaus der Jüdischen Gemeinde Pinneberg am Clara-Bartram-Weg. Er betet in der Synagoge. Er schläft auf einem Klappsofa in der Bibliothek. In der Küche bereitet er sich Essen zu, das Gemeindemitglieder ihm vorbeibringen. Die Zeit vertreibt er sich mit Telefongesprächen und Fernsehen, am liebsten BBC, Tierfilme und die Spiele der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien. Der Sudanese, der selbst Marathon läuft, ist ein Verehrer der deutschen Nationalmannschaft und kennt fast alle deutschen Spieler mit Namen. Er hat ein paar Wörter Deutsch gelernt wie: „Ich bin Tischler.“

Geschichte seiner Flucht

Vor sechs Jahren hat Ashraf O. seine Heimat Kassala im Osten des Sudan verlassen. Dort kämpfen die Regierungsarmee und die südsudanesische Volksbefreiungsbewegung gegeneinander. Ashraf O. gehörte zur Opposition, machte sich für Menschenrechte stark. Er kam ins Gefängnis und floh, als Schafhirte verkleidet, nach Ägypten. Von dort kam er mit einem Fischerboot nach Griechenland, wo er fünf Jahre Gelegenheitsarbeiten als Tischler und Maler verrichtete und immer wieder im Gefängnis saß, weil er keine Papiere hatte. Dann ging es über Albanien, Montenegro und Serbien nach Ungarn.

„In Ungarn hat man mich gezwungen, einen Asylantrag zu stellen“, sagt Ashraf O. Wieder floh er, diesmal aus dem Lager Debrecen, und kam für 150 Dollar mit einem Lkw nach Frankfurt an der Oder. Über Braunschweig ging es dann im Dezember 2013 ins Wohn- und Ferienheim Heideruh in Buchholz in der Nordheide, das als Flüchtlingsaufnahmelager anerkannt ist.

In der Nacht zum 25. Juni, um zwei Uhr, lief die Duldung für Ashraf O. aus. Weil der Sudanese über Ungarn nach Buchholz gekommen war, wollte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ihn entsprechend dem Dublin-II-Abkommen wieder nach Ungarn abschieben. Das Verwaltungsgericht Lüneburg hatte den Abschiebebeschluss im Eilverfahren vorläufig bestätigt – der Rückflug von Frankfurt am Main nach Budapest war schon gebucht. „Aber niemand von den Behörden hat meinen Mandanten abgeholt“, sagt Ashraf O.s Hamburger Anwalt Dieter Priem.

Erste Gemeinde, die Kirchenasyl gewährt

Weil die Duldung für den Sudanesen abgelaufen war, nahmen Unterstützer von Ashraf O. Kontakt zu Kirchengemeinden in Niedersachsen auf. Ohne Erfolg. Schließlich erreichten sie den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Pinneberg, Wolfgang Seibert, 66. Der hielt zwei Minuten Rücksprache mit seinem Vorstand, dann sagte er: „Wir gewähren Ashraf Kirchenasyl.“

Wolfgang Seibert betrachtet es „als Verpflichtung“, für Flüchtlinge einzustehen. „Wir Juden haben seit der Flucht aus Ägypten bis zum Nationalsozialismus und der Flucht aus den arabischen Ländern bei der Staatsgründung Israels eine große Fluchterfahrung“, sagt der Pinneberger. „Welche Religion Ashraf hat, ist mir egal – wir hätten auch einen verfolgten Christen aufgenommen.“

Die Vorstandsvorsitzende der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, Fanny Dethloff, begrüßt den Schritt der Jüdischen Gemeinde Pinneberg. „Die Pinneberger Gemeinde ist die erste jüdische Gemeinde in Deutschland, die einem Flüchtling Kirchenasyl gewährt hat“, sagt die Hamburgerin. „Das Hin- und Hergeschiebe von Flüchtlingen in Europa macht keinen Sinn. Es ist wichtig, dass die Flüchtlinge einmal ankommen im fremden Land.“

„Zustände für Asylsuchende in Ungarn sind katastrophal“

Im EU-Land Ungarn seien die Bedingungen für Flüchtlinge „nicht menschenwürdig“, sagt Fanny Dethloff. Mehrere Verwaltungsgerichte, etwa in Freiburg, München und Stuttgart, haben Abschiebungen von Deutschland nach Ungarn abgelehnt. Begründung: Die Lebensbedingungen für Flüchtlinge seien dort „unzumutbar“. „Es ist bekannt, dass die Zustände für Asylsuchende in Ungarn katastrophal sind“, sagt Rechtsanwalt Dieter Priem. „Viele Flüchtlinge werden dort zunächst inhaftiert und erhalten keinerlei staatliche Unterstützung.“

Der niedersächsische Landkreis Harburg, in dem Ashraf O. zuletzt lebte, akzeptiere die Jüdische Gemeinde Pinneberg „als neue Meldeadresse, sagte Sprecher Johannes Freudewald auf Anfrage. „Unsere Ausländerbehörde wird keine neue Duldung ausstellen, weil Herr O. jetzt ja Kirchenasyl gefunden hat. Wenn er in einem Zeitraum von sechs Monaten nicht nach Ungarn zurückgeführt werden kann, kann er in Deutschland Asyl beantragen. Diese Frist endet am 3. August.“ Asyl für Ashraf O. in Deutschland ist auch das Ziel von Dieter Priem: „In Deutschland haben Flüchtlinge aus dem Sudan gute Chancen, ein Aufenthaltsrecht zu bekommen“, sagt der Anwalt.