Die deutsche Nationalmannschaft hat auf der Fanmeile die Argentinier verhöhnt. Nicht alle fanden den Gaucho-Tanz angebracht. Dabei haben Kroos und Klose gezeigt: Auch Fußballer sind Fans.

Man hätte es auch singen und tanzen können: „Ihr seid Papst. Wir sind Weltmeister!“ Das twitterten die Deutschen sich daheim nach dem Gewinn des Titels zu, der Tweet wurde zur Zeitungsschlagzeile gegen die Argentinier und für Deutschland. Dann kehrte auch die Mannschaft nach Berlin zurück und sang und tanzte auf der Fanmeile: „So geh’n die Gauchos, die Gauchos geh’n so (gebeugt). So geh’n die Deutschen, die Deutschen geh’n so (erhobenen Haupts).“

Schon 1990 hatten deutsche Fans auf der Tribüne im Meazza-Stadion von Mailand so gesungen und getanzt, nach dem Triumph über die Nachbarn aus den Niederlanden. Nach dem Halbfinale der Europameisterschaft 2008 wurden die Türken mit dem Ritual verhöhnt. So ist es Brauch im Fußball.

Dass sich nun am Gaucho-Tanz eine Debatte über die Moral der Fußballfankultur entzündet, mag eine der Spätfolgen des deutschen Sommermärchens sein, als Deutschland anständig den dritten Platz belegte und als fröhliche Familien die Fanmeilen bevölkerten. Acht Jahre später sagte Papst Franziskus, ein glühender Fan des berüchtigten argentinischen Clubs Atlético San Lorenzo de Almagro: „Der Sport ist die Schule des Friedens.“

Man mag und schätzt sich trotzdem irgendwie

Fußball ist nicht nur das größte und schönste Spiel der Welt. Im Stadion finden Stammesfehden statt, die im zivilen Leben gütlich beigelegt sein sollten. Da werde, hat der Philosoph Peter Sloterdijk erkannt, „das älteste Erfolgsgefühl der Menschheit reinszeniert: mit einem ballistischen Objekt ein Jagdgut zu treffen, das mit allen Mitteln versucht, sich zu schützen.“

Auch wenn die Sprache des Neoliberalismus die Kriegsmetaphern im Fußball mehr und mehr ersetzt, es ist noch da: das letzte Reservat des Heroismus, das atavistische Spektakel, die Überhöhung der eigenen Horde und die Herabsetzung der anderen.

Dortmunder Familienväter singen fern ihrer Familien: „In Gelsenkirchen, da liegen Leichen mit aufgeschlitzten Bäuchen. Und in den Bäuchen, da stecken Messer mit der Aufschrift: ‚Wir waren besser‘.“ Das alte Menschenfresserlied. Auf Schalke singen sie es über Lüdenscheid. „Lasst uns schlachten einen Sachsen, weil die Viecher so schnell wachsen. Du das Bein und ich das Ohr, und dann singen wir im Chor …“, singt der Berliner beim Besuch des Dresdner Glücksgas-Stadions. Und die Dresdner singen: „Ihr seid Preußen, asoziale Preußen. Ihr schlaft unter Brücken oder in der Bahnhofsmission.“ Was nicht bedeutet, das man sich nicht mag und schätzt.

Brasilien ist nur noch ein Karnevalsverein

Auf Gassenhauer wie „Guantanamera“ oder „Yellow Submarine“ passt jeder Schmähgesang. „Scheiß FC Bayern“, singen die einen; „Ihr werdet nie deutscher Meister“, entgegnen die anderen. „Zieht den Bayern die Lederhosen aus“ (alle außer Bayern), „Schiebt den Bayern die Schale in den Arsch“ (dito), „Was ist grün und stinkt nach Fisch? Werder Bremen!“ (HSV), „Wir hängen Popivoda an das Brandenburger Tor“ (Hertha BSC in den Siebzigern).

„Ihr seid nur ein Karnevalsverein“, das singen alle außerhalb des Rheinlands über die Vereine aus dem Rheinland, und das grölen jetzt auch Anhänger der deutschen Nationalmannschaft über die Brasilianer.

Es zählt zu den fulminanten Missverständnissen des schönen neuen DFB- und Fifa-Marketings, dass Fußball Freude machen muss. Es geht um Leid. Der Schriftsteller Nick Hornby, Fan von Arsenal London, schreibt in „Fever Pitch“: „Was ich mehr als alles andere brauchte, war ein Ort, an dem ziellose Unglückseligkeit gedeihen konnte. Ein Ort, an dem ich still sein, mir Sorgen machen und meinen Kopf hängen lassen konnte.“ Aus dem Leidensdruck (und aus dem Druckabfall im Sieg) entstehen Lieder.

Siamesen kann niemand trennen, Schizophrene sind nie allein

Bei Union Berlin empfangen sie den Gegner gern mit „Wir sind eure Hauptstadt, ihr Bauern!“ Daraufhin rufen die kreativeren Gäste, beispielsweise aus dem nahen Babelsberg: „Wir sind eure Bauern, ihr Hauptstadt!“ Oder wie zuletzt die weit gereisten Aachener, aus Deutschlands alter Kaisermetropole: „Wir waren eure Hauptstadt, ihr Bauern!“ Oder auch: „Es kommt die Zeit, in der die Mauer wieder steht!“

Dass Schlachtgesänge nicht nur Kriege sublimieren, sondern mittlerweile auch sich selbst, zeigen die unzähligen Selbstbezichtigungen. Bei Union Berlin in Köpenick singen sie heute noch gern: „30 Meter in Quadrat, Minenfeld und Stacheldraht, jetzt wisst ihr, wo ich wohne, ja, ich wohne in der Zone.“ Und, als klarste Argumentationskette des Fantums: „Siamesen kann niemand trennen, Schizophrene sind nie allein, Pädophile ham immer Bonbons – und Union ist mein Verein!“

Es gab schon Fußballkriege wie 1969 zwischen Honduras und El Salvador und Spiele, die als Kriege geführt wurden wie 1986 in Mexiko zwischen England und Argentinien in den Nachwehen des Falkland-Konflikts.

Jede WM ein Friedensgipfel

Die Argentinier tun sich immer gern hervor mit Tänzen und Gesängen, um ihre zahlreichen Erzfeinde zu demütigen. Nachdem Brasilien tränenreich an Deutschland zerbrochen war, stimmten die Argentinier in den Straßen Rios ihre eigene Version des Rockklassikers „Bad Moon Rising“ an: „Ihr heult seit Italien bis heute. Ihr werdet Messi sehen, wie er uns den Pokal zurückbringt. Maradona ist größer als Pelé.“ Dabei schwenkten die Argentinier Kunststoffwirbelsäulen, um den Lendenwirbelbruch Neymars zu feiern.

Wenn in Deutschen Stadien Fladenbrote fliegen und Alditüten gehisst werden, sobald die Türken einlaufen, ist das nach Konrad Lorenz’ Grundlagenwerk „Das sogenannte Böse“ eine spielerische „Sonderform des Kampfes“: „Wettkämpfe zwischen Nationen stiften dadurch Segen, dass sie ein Abreagieren nationaler Begeisterung ermöglichen“, schreibt Lorenz. Jede WM ein Friedensgipfel.

Der Gaucho-Tanz von Klose, Kroos und Co. hat zweierlei gezeigt: Auch Fußballer sind Fans, nicht nur Geschäftsmänner und Unterhaltungskünstler. Manche, Manuel Neuer stand als Amateur unter den singenden und tanzenden Ultras, stammen aus der Kurve. Und der Papst aus Argentinien hat Recht: Fußball ist Frieden.