Das Marbacher Literaturarchiv sichtet seine Fotos. Rund 100.000 Stück liegen in den Nachlässen. Sie verraten, was Schriftsteller weltweit auf Touren bringt: Kriege, Urlaube und Stipendien.

Gibt es für die Optik in der Literaturgeschichte doch noch Hoffnung? Sie wissen schon, die Sache mit den Bildern von den Schriftstellern: Vielleicht haben wir einfach schon zu viele versonnen dreinblickende Suhrkamp-Debütantinnen gesehen, zu viele gepflegt-ungepflegte Ingo-Schulze-Locken und überhaupt viel zu viele Hände am Kinn. Müssen sich Schriftsteller auf Porträtfotos ständig an sich selbst festhalten?

Die Bilder von den Schriftstellern, die das Deutsche Literaturarchiv Marbach (DLA) in seiner Sommerausstellung „Reisen. Fotos von unterwegs“ präsentiert, sind zum Glück fast keine dieser klassischen Schriftstellerporträts, auch fast keine Selfies. Sie bestücken sich vielmehr aus all dem, was Schriftsteller auf Reisen gesehen, dokumentiert und geknipst haben.

Das Archiv sichtet seine Fotos

Rein formal gesprochen bringt uns Marbach mit dieser Schau seine Bestandsgruppe „Bilder und Objekte“ näher. Erstmals seit Bestehen des Literaturmuseums der Moderne sprechen diesmal keine literarischen Worte oder Manuskripte, ja noch nicht einmal Zettelkästen, sondern allein Bilder. Rund 100.000 Fotografien haben sich mit den schriftstellerischen und gelehrten Nachlässen im DLA mittlerweile angesammelt.

„Sichten“ ist jetzt angesagt, gemäß den Jahresmotti, die Marbach seit Jahren formuliert, um der interessierten Öffentlichkeit Vorstellungen vom eigenen Tun vermitteln. Horten, Sammeln, Forschen ist ja nur die oberflächlichste Jobbeschreibung dieser Institution, die den Nachlass unserer Dichter und Denker verwaltet. Es geht ums „Ordnen“ (2007), „Finden“ (2013) und jetzt eben „Sichten“ – aber wie? Was aber besichtigt man, wenn man den Foto-Fundus von Schriftstellern sieht? Sind fotografische Fähigkeiten, gar Handschriften erkennbar?

Eine Palme ist keine Palme keine Palme

Manches kann sehr banal ausfallen: Auf Erich Kästners italienische Zypressenzweige hat die Welt nicht gewartet. Auf Hilde Domins „Palme vor meinem Zimmer“ schon, zeigt doch allein der Ortsname ihres Exils in der Dominikanischen Republik („Ciudad Trujilo“), in welches trügerische Exil – das Eiland eines rassistisches Diktators – sich die jüdische Dichterin flüchten musste, um die Nazijahre zu überleben.

Es sind neben Flucht und Krieg und Urlaub auch „Projekte“ und nicht zuletzt Stipendien, die Schriftsteller unterwegs sein lassen. Thomas Meinecke wurde von April bis Juni 2010 als „Austauschschriftsteller“ nach Brasilien eingeladen. Mitten auf den Straßen von Salvador de Bahia entdeckt er Pierre Bourdieu. Oder wenigstens eine Werbung für eine Ausstellung, einen Kinofilm oder die gleichnamige NGO? Das Konterfei des Intellektuellen mit Telefonnummer.

Von Harry Graf Kessler bis Rainald Goetz

Ein fortlaufender Wandfries hält diese Marbacher Ausstellung zusammen. Rund tausend aneinandergereihte Aufnahmen ergeben einen Zeitstrahl aus rund 120 Jahren Fotografiegeschichte. Die beginnt in den 1890er Jahren mit Harry Graf Kesslers Weltreise und endet im Jahr 2013 mit blauer Frotteehandtuchware vor der Linse von Rainald Goetz.

Vieles ist, wenn man mit Vita und Werk der Autoren halbwegs vertraut ist, erwartbar: Ernst Jünger liefert Bilder von der Front des Ersten und Zweiten Weltkriegs, Hermann Hesse solche vom Nacktklettern, und Siegfried Kracauer, der Flaneur, hat ein Faible für Pariser Schaufenster, Bahngleise und Brücken.

Die Golden Gate mit Gelbstich

Bis circa 1965 geht man mit Nina-Hagen-Ohrwurm durch die Ausstellung: Ihr habt den Farbfilm vergessen, doch das stört nicht. Im Gegenteil: Man erschaudert vor dem von Harry Graf Kessler abgelichteten, mit der Lingchi-Methode hingerichteten Chinesen. Man goutiert den künstlerischen Ertrag von Armin T. Wegners Orientreise von 1929. Schwarze Schatten , leere Wüsten, primitive Ölfördertürme in Baku.

Man hat sich schwarz-weiß richtig gut eingesehen und ist dann (wie 2006 bei der Einführung der farbigen Titelseite der „FAZ“) fast empört, dass man jetzt plötzlich den Gelbstich ertragen soll, mit dem Mary Tucholsky die Golden-Gate-Bridge eingefangen hat. Oder das vom Stimmungskitsch triefende Gebüsch mit Nebel und durchbrechenden Sonnenstrahlen, mit dem Marie-Luise Kaschnitz den Gemälden eines Caspar David Friedrich fotografisch Konkurrenz macht.

Relevanter Foto-Realismus

Wenige Schritte weiter hat man sich dann schon ganz an die coolen Farben gewöhnt, macht tolle Entdeckungen! Wie bunt die Autos einmal waren! Quietschgelb wie der R 4 und der VW Golf, zwischen denen wir Peter Handke auf einem Parkplatz erspähen.

Man nimmt zur Kenntnis, wie die Leute aus dem Literaturbetrieb mit Vorliebe immer wieder ihre eigenen Fortbewegungsmittel fotografieren: Autos, Flugzeugtragflächen, Schiffsdecks. Ja, sie waren unterwegs. Siegfried Unseld studiert den Stadtplan vor einer Tram in San-Francisco. Peter Handke sitzt als Brillenungeheuer am Steuer und Matthias Politicky streckt seine Wanderschuhfüße auf dem Berg Sinai so gipfelselig in die Sonne, als würde er zünftigste Werbung für die „Alltag raus, Österreich rein“-Kampagne treiben. Relevanter Foto-Realismus lässt grüßen.

Friedrich Kittler testet Odysseus’ Sirenen

Ein Gag der Ausstellung ist, wie der Endlos-Fries der Dichter und Denker an einer einzigen Stelle mit einem Bewegtbild aufwartet (bei künftigen Handy-Video-Generationen dürfte sich das Verhältnis ganz anders ausfallen): Der Medientheoretiker Friedrich Kittler hat die Sirenen-Insel bei Salerno besucht und möchte offenkundig testen, wie weit die Odyssee recht hat und verführerische Stimmen auf das Meer hinaustragen. So verwackelt und ruckartig, wie das Video ran- und wieder wegzoomt, kennt man das von jedem guten Amateurvideo.

Über den reinen Wandfries hinaus sind die Marbacher Räume mit so genannten Motivinseln bestückt: runde Tischvitrinen, die über die reine Chronologie hinaus Bedeutung generieren, indem sie Fotomotive aus bestimmten Jahrzehnten mit dem Signum geisteswissenschaftlicher Epochen verknüpfen.

Ist das nicht alles nur Beiwerk?

Wenn Christa Heinig monströse Gehwegplatten in München festhält, Hans Ulrich Gumbrecht gekachelte Hausfassaden in Brasilia und Peter Handke Wolkenformationen im Beifahrerspiegel, ist das laut Marbacher Ausstellung kein Zufall, sondern strukturale Semantik oder – frei nach Roland Barthes – die Welt als Erzählung, die wir selbst in Einzelteile zerlegt haben. Pimp my pic, könnte man auch salopp sagen zu der Art und Weise, mit der das DLA hier seinen fotografischen Archivbestand aufwertet.

Literaturpuristen könnten kritisieren: Was soll, was will ein textorientiertes Literaturarchiv mit all diesem Kram, der doch eher ins Panini-Album der Paratexte gehört? Sieht der Eiffelturm anders aus, nur weil ein Siegfried Kracauer ihn fotografiert hat? Nein.

Nicht jeder kann verdichten

Aber eben hier wird es spannend: Wenn wir Literatur nicht nur als anonymes Textkorpus rezipieren (und das tun wir bekanntlich alle nicht), dann gewinnen die lebensweltlichen Spuren im Nachlass von Autoren sehr wohl Evidenz und Signifikanz. So finden sich in Marbach nicht wenige Querverbindungen zwischen literarischen und fotografischen Nachlässen.

Im Übrigen gilt, was Friedrich Dürrenmatt, seines Zeichens eine Doppelbegabung für Wort und Bild, mal als Vorwort für ein Foto-Buch formuliert hat: „Jeder kann knipsen. Auch ein Automat. Aber nicht jeder kann beobachten.“ Erst die Fähigkeit zur Beobachtung, zur Verdichtung bringt Bilder – wie gute Bücher – zum Sprechen.

Literaturmuseum der Moderne, bis 5. Oktober. Katalog: 538 Seiten, 30 €.