Beim Klagenfurter Bachmannpreis heftig kritisiert, doch im Stillen überzeugend: Der erste Roman der Lyrikerin Kerstin Preiwuß erzählt von deutschen Traumata. Wie weit ist der Weg von Nerzfarm zum KZ?

Für den Bachmannpreis hat es nicht gereicht. Die Leipziger Autorin Kerstin Preiwuß wurde von Meike Feßmann zu den 38. Tagen der deutschsprachigen Literatur eingeladen. Mit einem Auszug aus ihrem nun erschienenen Romandebüt „Restwärme“ ging sie beim Klagenfurter Wettlesen auch in allen Nebenpreiskategorien leer aus.

Eine Nerzfarm in der DDR als groß angelegte KZ-Metapher, minutiös Natur und Schrecklichkeiten im Reportagestil inventarisierend – die Plakativität dieses Bildes wurde dem Romanausschnitt als Mangel, von Jurorin Daniela Strigl gar als „Beschädigung“ ausgelegt. „Bedeutungsschwer im Film in Moleskinebücher kritzeln und hinterher auf der Bühne über Nerzvergasung sprechen, das geht tatsächlich nicht immer gut“, schrieb Sandra Kegel nach der Verleihung des Bachmannpreises resümierend in der „FAZ“.

Doch wie verhält es sich mit Kerstin Preiwuß’ Roman nun in Gänze? Gelingt es, die Genealogie eines Traumas zu erzählen, das – über vier Generationen hinweg vererbt – eine Geschichte der Verstörungen, der Gewalt, des Krieges und des Missbrauchs ist? Bislang wurde Preiwuß als Lyrikerin gefeiert (ihr Langgedicht „Rede“ erschien 2012 bei Suhrkamp), jetzt muss sie also in den Prosalackmustest. Wie verhält es sich mit der Befrachtung des Textes durch die „Hypothek des traumatisierten NS-Vaters“ (Strigl)?

Wofür „Restwärme“ steht

„Restwärme“, schon dieser Titel evoziert allerlei Assoziationen: Die Restwärme eines verloschenen Feuers, dessen Glut beständig nachglimmt; die Restwärme eines heißen Sommertages, die in den Abendstunden noch in jeder Ritze zu spüren ist; oder die körperliche Restwärme einer verstorbenen Person. Die Restwärme kann genauso auf zwischenmenschlicher Ebene gelesen werden: ein Rest Wärme, der in einer Beziehung herrscht, das letzte bisschen familiärer Anstand auf der nach unten offenen, negativ konnotierten Skala.

Und auch auf intertextueller Ebene lässt sich dieser Titel fruchtbar machen, heißt doch ein Theaterstück des Schriftstellers und Regisseurs Eugen Ruge ebenfalls „Restwärme“: ein Monolog – wie überaus sinnfällig – über einen scheiternden Mann. Und damit noch nicht genug der Spuren, mit denen man diesem Roman zu Leibe rücken kann.

Auch das vorangestellte Zitat des US-amerikanischen Komponisten John Cage muss hier als Vorzeichen im Sinne von „Paratexten“ gelesen werden: „Wir brauchen die Vergangenheit nicht zu zerstören: sie ist fort; jeden Augenblick könnte sie wiederkehren, Gegenwart scheinen und sein. Wäre es eine Wiederholung? Nur wenn wir dächten, wir besäßen sie, aber da wir’s nicht tun, ist sie frei und wir ebenso.“

John Cage als Motto

Dieses Zitat aus dem „Vortrag über Nichts“ ist hier im Zusammenhang mit Cages Komposition „4’33“, einem Stück über die Stille und die Konzeption von Wiederholbarkeit zu betrachten, im Sinne einer nicht äquivalenten Wiederholbarkeit des Konzerts als Ereignis und des Zusammenspiels von Stück und Rezipient. Dass Preiwuß ihrem Roman dieses Zitat voranstellt, ist also gewiss eine interessante Konstruktion, die sich im Hinblick auf die Wiederholung von vergangenen Ereignissen, historisch oder gar nur auf familiärer Beziehungsebene, in ein Spannungsfeld setzen lässt.

Gleiches gilt für den Aspekt der Stille: Bei Cage sind es typografische Leerstellen auf dem zu spielenden Blatt, bei Preiwuß Leerstellen semantischer und inhaltlicher Natur, die den Plot dieser Familiengeschichte veruneindeutigen und der Interpretation des Lesers manchmal versperren, dann aber auch wieder öffnen.

Nicht immer geht Preiwuß dabei so mit dem metaphorischen Brecheisen vor, wie es am Beispiel des bis ins Letzte ausbuchstabierten Nerz-KZ überdeutlich wird. „Die Familie kann ein unheimlicher Ort sein“, schreibt Preiwuß in ihrem Klagenfurter Autorenfilmchen in das besagte Moleskinebuch. Der Tod des Vaters Otto und sein Begräbnis ziehen die Protagonistin Marianne zurück zur Familie, in die Heimat und in „eine Umklammerung, die nach außen wie eine Umarmung wirkte, der man den Würgegriff aber nur nicht gleich ansah“. Ihrer Mutter wünscht sie „noch viele schöne Jahre ohne ihn“.

Familiäres Grauen trifft Zeitgeschichte

Die Reise zurück zur Mutter und zum Bruder Hans wird zur Nabelschau des innerfamiliären Grauens – trocken erzählt und mit einer Prise Zynismus gespickt in den teilweise großartig, fast wie bei Beckett konstruierten Dialogen. „Vielleicht setzt man noch etwas früher an mit Vater, der aus der Kriegsgefangenschaft kam, eine Familie gründete und unter die Säufer ging.“

Nicht nur der Vater ist ein Versehrter, auch der Großvater ist, durch Krankheit erblindet, ein „Siechender“, der zu nichts zu gebrauchen ist. Die erste Frau des Großvaters Johann, Ottos Mutter Ida Apolonia, stirbt noch im Kindbett, da tritt die Stiefmutter Hedwig auf den Plan. Sie findet, dass der Herr Hitler ein fescher Mann ist und es eine Schande ist, dass der Johann nicht an der Front dienen kann.

Im Kolonialwarenladen besteigt Johann die Kriegswitwen des Dorfes, der kleine Otto schaut angeekelt zu. Die Geschichte nimmt ihren Lauf, die Familie bringt nur noch gestörte Existenzen hervor, durch traumatische Erfahrungen zu dem gemacht, was sie sind – oder eben doch durch Vererbung? Mariannes Vater ist ein herrschsüchtiger Trunkenbold, der nur, wenn er auch wütend ist, sexuell erregt wird. Mariannes Bruder Hans, der unter dem Tyrann leidet, wird selbst zum Sadisten, quält und tötet Tiere.

Liegt die Gewalttätigkeit in der Familie?

Der Vater ist zwar unter der Erde, aber sein gewalttätiges Vermächtnis klingt in Marianne und Hans nach, von der Mutter war und „ist nicht viel zu erwarten, sie lebt in ihrer eigenen Welt. Vater bietet ihr keine gemeinsame an, trägt ihr nur seine auf.“ Die Geschichte changiert zwischen der Jetztzeit – dem Begräbnis des Vaters und der Identitätssuche im Hinblick auf die Gewalttätigkeit ihrer Familie – und der Vergangenheit und Kindheit.

Kerstin Preiwuß ist mit „Restwärme“ ein lakonischer Roman gelungen, der seine Schwächen auf inhaltlicher Ebene, wenn es um allzu offensichtliche Psychologisierungen der Generationen der Kriegsveteranen und Nachkriegsdeutschen geht, durch semantische Uneindeutigkeiten für den Rezipienten wettmacht. So ist zum Beispiel bis zuletzt nicht auflösbar, ob der Vater tatsächlich „nur“ Pflanzen und Nerze vergast hat oder ob er noch eine viel größere Schuld mit sich trägt.

Auch das Verhältnis von Marianne und ihrem Bruder erfährt immer wieder in ihrer Jugend sexuelle Aufladungen, die mitschwingen, jedoch nicht aufgelöst werden. Die Vergangenheit? Eine Leerstelle. Doch dann schlägt Marianne ihre Tochter. Wer die Vergangenheit hier nur in der Plakativität eines Nerz-KZ sucht, wird Preiwuß’ erstem Roman bei Weitem nicht gerecht.