Fremd-vertraute Grüße aus der Vergangenheit: Walter Lüdens Fotos von 1947 bis 1965 in einem neuen Band

Auf der Litfaßsäule inmitten des Bahnsteigs wird ein Konzert des Schwarzmeer Kosakenchors beworben. Das Beerdigungsbüro Kropp wirbt für sein Geschäft; auf einer Bank sitzt ein älterer Herr. Er trägt eine Mütze. Im Jahr 1949 tragen alle Herren Kopfbedeckung, nicht nur Schiebermütze, gerne auch Hut. Das Schild schreibt den Namen der U-Bahn-Station auf eigenwillige Weise: Den „Stephan“ ganz groß, das „s“ und den „Platz“ klein, wie ein Anhängsel. Wie die Berliner bei ihrem Alex nannten die Hamburger ihren Platz anscheinend auch mal nur mit dem Vornamen.

Das ist der Erkenntnisgewinn, wenn man sich alte Fotos anschaut. Alte Fotos aus den Städten, in denen wir leben. Wie sah es hier mal aus? Die Häuser, die Straßen, Parks, Kaufhäuser, Straßenbahn? Wie sahen die Menschen aus?

Bildbände und Fotoserien werden gerne gekauft und angeschaut, weil sie die Frage beantworten, woher wir kommen – sie rufen oft bestimmte Gefühle hervor, die mit Begriffen wie Nostalgie und Herkunftsstolz beschrieben werden können, manchmal an eine selbst erlebte Epoche erinnern, manchmal an eine Vorzeit, in der man noch nicht auf der Welt war. Mal erkennt man die Stadt nur noch in Ansätzen, mal hat sich fast gar nichts verändert. Mal flaniert man neugierig mit den Augen über Fotoreportagen von früher, mal untersucht man die Aufnahmen mit dem Blick des Hobbyhistorikers.

Im Falle von Walter Lüdens Band „Hamburg. Fotografien 1947–1965“ kann man beides machen. Der 1914 in Hamburg geborene Fotograf lief mit seiner Kamera nach dem Krieg jahrelang durch seine Heimatstadt. Er fotografierte für eine Presseagentur, für Zeitschriften und auch für das Hamburger Abendblatt; für Unternehmen wie Kühne + Nagel, den Flughafen und die Hochbahn. Er fotografierte Straßenszenen, Kinder, Erwachsene, Trümmerwüsten in Hammerbrook, den Hafenumschlag an der Elbe, den Silbersack am Kiez, die Blankeneser Dorfstraße, den Dom, den Flughafen, die City – Aufnahmen in Schwarz-Weiß, die so fremd-vertraut wirken, wie es nur die Zeit und ihr Vergehen bewerkstelligen kann.

Jedes einzelne dieser Fotos ist ein Gruß aus der Vergangenheit: Alles bleibt immer irgendwie gleich und verändert sich doch. Kunstvoll inszeniert sind Lüdens Bilder selten und am schönsten dann, wenn Lüden seine Motive im Gegenlicht fotografierte oder mit langen Belichtungszeiten arbeitete. Manchmal sind die Szenen gestellt, etwa wenn er 1955 die Schulkinder im Freibad am Kaifu ablichtete oder die Hafenarbeiter der Stauerei Gerd Buss im Jahr 1959. Meistens aber fotografierte Lüden, der auch gerne durch seinen Wohnort Blankenese streifte, den ungeplanten Moment – und zeigte mit den Menschen und ihrer Umgebung immer auch den jeweiligen Geist der Zeit.

Die Wunden, die der Krieg geschlagen hatte, zeigten sich vielleicht in nichts so gut wie den kriegsversehrten Hammerbrooker Straßenzügen des Jahres 1947. Erschöpft war Hamburg damals, aber auch mitten im Aufbruch, und so finden sich in Lüdens Fotostrecke sowohl Aufnahmen von Männern, die mit hängendem Kopf am Wegesrand sitzen – Flüchtlinge, Kriegsheimkehrer, Ausgebombte? – als auch welche, die ein Hamburg zeigen, das in der Dynamik des Wiederaufbaus sein Gesicht veränderte. Hamburg ist in den knapp zwei Jahrzehnten, die Lüden motivisch verewigte, in Bewegung, weshalb die Retroschau mit vielen der Fotosets jeweils kleine, neue Kapitel der Stadtgeschichte aufschlägt. Die von dem Lübecker Historiker Jan Zimmermann herausgegebene Fotosammlung kann, wie das Beispiel des Mannes in Hammerbrook zeigt, nicht bis ins Letzte Aufschluss über die Aufnahmen geben.

Was die Kraft der Bilder nie beeinträchtigt: Ein Bild von 1950 mit Beinamputierten sagt unendlich viel über die Schatten des Krieges.

Jenseits der nicht vergehen wollenden Vergangenheit, die sich in Baulücken, Ruinen und versehrten Männern offenbarte, kehrte Normalität ein. Das erste Nachkriegs-Galoppderby fand 1948 in Horn statt, 1950 gab es wieder das Springderby in Klein Flottbek. Wer genau hinsieht, entdeckt inmitten interessant gekleideter Hamburger einen britischen Offizier.

Wer zu der in Hamburg nicht kleinen Gruppe der Straßenbahnnostalgiker gehört, wird beim Blättern im Band an den Straßenbildern mit Tram hängen bleiben wie dem, das Letztere 1951 in der Poststraße zeigt. Es sind Impressionen einer Schwellenzeit, in der die motorisierte Gesellschaft schon in Ansätzen zu erkennen war: Die Straßenbahn muss sich die Straße mit immer mehr Autos teilen.

Im Fluss der Zeit verlieren sich Dinge, andere kommen neu dazu. 1955 steht das Amerika-Haus noch, es wird später dem Straßenausbau an der Lombardsbrücke weichen; auf dem Ballindamm fahren Getränkelaster mit Coca-Cola-Schriftzug, weil die Hamburger nun dem Reiz von Softdrinks erliegen.

Zum Porträt einer Stadt gehören auch Kultur- und Ausgehbezirke. Was die Einteilung in Quartiere, Funktionen und Strukturen angeht, ist die Topografie langlebig – ein „neuer“ Stadtteil wie die HafenCity entsteht gerade in dieser Dimension nicht allzu oft. Eine Imagebroschüre über Hamburg um 1960 hätte wohl aus den Bildern bestanden, die Lüden mit seinem konzentriert-nüchternen, nie auf Pathos zielenden Blick machte. Entspannte Treppensitzer an der Binnenalster, Sonntagsausflügler an der Elbe, Planten un Blomen, Hagenbeck, die City – Hamburgs Schönheit und Dynamik erscheinen in Lüdens monochromen Aufnahmen als klassische Eigenschaften einer modernen, lebenswerten Metropole.

Was Lüden damals als Ausschussware produzierte und nicht veröffentlichte, sind heute seine ästhetisch und lokalhistorisch interessantesten Arbeiten: etwa Frauen, die in der City – alle im züchtigen Rock – über den Zebrastreifen laufen. Oder das kontrastreiche Doppel von altem Gängeviertel und neuem Unilever-Haus am Valentinskamp. In den 60ern wurde Lüden Zeuge, wie sich Hamburg selbst verbaute.

Im Fluss der Zeit verlieren sich manche Dinge, andere kommen neu dazu.