Als Linienrichter reist Matthias Giese 25 Wochen im Jahr durch die Welt, er hat Finalspiele in Wimbledon, Paris und New York erlebt. Seine Karriere begann am Rothenbaum. Dort sorgt er als Chief of Officials dafür, dass es korrekt zugeht

So dudelt es aus seinem Handy: „HSV, forever and ever.“ Die Stadionmusik, zu der Hamburgs Bundesligafußballer zu ihren Heimspielen einlaufen, wird während unseres Gesprächs mit Matthias Giese viele Male ertönen. Dieses Mal ist es einer seiner Kollegen, der einen Linienrichter nicht finden kann. „Ein Ungar ist verschollen“, sagt Giese, als er aufgelegt hat. Er sagt es völlig ruhig, mit der Routine eines Mannes, der so viel erlebt hat in seinem Job, dass ihn ein verschwundener Ungar nicht weiter erschrecken kann. Wird schon wieder auftauchen, der Mann.

Giese, 44 Jahre alt, lichtes Haupthaar, schlanke Figur und stets ein gewinnendes Lachen im Gesicht, ist in diesen Tagen beim Herrentennisturnier am Hamburger Rothenbaum eine der wichtigsten Personen im Hintergrund, im Heer der Helfer, die für einen reibungslosen Ablauf der seit 108 Jahren ausgetragenen Traditionsveranstaltung sorgen. Er ist der Chief of Officials, der Leiter eines dreiköpfigen Teams, das für die Organisation des Schieds- und Linienrichteraufgebots zuständig ist. Während die Ansetzung der Referees von Oberschiedsrichter Norbert Peick übernommen wird, ist es Gieses wichtigste Aufgabe sicherzustellen, dass bei allen Partien ausreichend Linienrichter eingeteilt sind.

Etwa 50 davon, Mindestalter 16 Jahre, sind in Hamburg am Start. Pro Match arbeiten sie in zwei Siebenerteams, alle 45 bis 60 Minuten, je nach Wetterlage und Intensität der Partie, wird getauscht. Giese organisiert für die Linienrichter aber nicht nur deren Einsätze, sondern auch Anreise und Unterkunft. Hotels sind in Hamburg nicht vorgesehen; diejenigen, die nicht aus der Metropolregion kommen, werden privat untergebracht. Matthias Giese und seine Frau Nicole teilen ihr Zuhause in Ottensen derzeit mit einem russischen Kollegen. Aber auch die Versorgung der Spieler mit Bällen und Handtüchern fällt in Gieses Aufgabenbereich. Wenn man so will, ist er derjenige, der seinen Job dann am besten macht, wenn er nicht auffällt, wenn es nichts zu meckern gibt. Service auf höchstem Niveau, und das möglichst geräuschlos – Matthias Giese mag das.

Das war allerdings nicht immer so. Zu seinem ersten Tennisjob kam der auf der Uhlenhorst aufgewachsene Hamburger durch sein vorlautes Mundwerk. „Bei meinem Verein, dem Klipper THC, wurde 1985 ein Schiedsrichter für den Bundesligabetrieb gesucht. Ich war 14 Jahre alt, hatte eine große Klappe und habe einfach gesagt: Jo, ich mach das!“ Einen Lehrgang gab es nicht, man sagte dem Jugendspieler, der im Klipper selbst auf die Filzbälle eindrosch, er solle „einfach auf den Platz gehen und rufen, wenn der Ball im Aus ist“. Das tat er dann auch.

Ein Jahr später wurden am Rothenbaum Linienrichter gesucht. Ein Kumpel hatte Giese erzählt, dass jeder Freiwillige mit Boss-Trainingsanzügen und einer Ray-Ban-Sonnenbrille ausgestattet würde. „Das fand ich cool, also habe ich mich beworben.“

Seitdem hat am Rothenbaum kein Turnier mehr stattgefunden, ohne dass Giese in wichtiger Funktion daran teilgehabt hat. Im Jahr 2000 trat der damalige Chief of Officials von seinem Posten ab. Giese, der sich als Linienrichter längst weltweit bewährt hatte, absolvierte die vorgeschriebene Prüfung und übernahm das Amt. In diesem Jahr feiert er sein 15. Dienstjubiläum.

Die Leidenschaft für den Tennissport hatte ihn jedoch schon 1990 über die Stadtgrenzen hinausgetrieben. Bis zu dieser Zeit war es normal, dass die Offiziellen bei den Turnieren zu ganz überwiegenden Teilen aus der jeweiligen Stadt kamen. 1990 jedoch erhielt Giese eine Anfrage aus Frankfurt am Main, ob er dort nicht bei der Weltmeisterschaft, die traditionell Ende November den Abschluss der Tennissaison bildet, an der Linie sitzen wolle. „Ich konnte zunächst kaum glauben, dass so etwas überhaupt möglich war. Aber da ich ein Faible fürs Reisen hatte, habe ich sofort zugesagt.“

In Frankfurt hatte er erstmals Kontakt zu ausländischen Linienrichtern. Ein Schweizer lud ihn zum Turnier nach Monte Carlo ein, und ein Jahr später ging er erstmals auf eine große USA-Tournee. „Miami, Indian Wells, Toronto, New York, ich habe alles mitgenommen, was ging“, sagt er. 18 Jahre ging das so, und jedes Jahr kamen Turniere in aller Welt hinzu. Die Bewertungen durch die Schiedsrichter, die ihre Assistenten nach jeder Partie benoten müssen, wurden besser und besser, die Aufgaben immer interessanter.

War die Arbeit als Linienrichter anfangs nur ein Nebenjob, gab Giese 2001, als er am Rothenbaum zum Offiziellen-Chef aufstieg, seinen Beruf als Assistent im Controlling der Beratungsfirma Ernst & Young auf, um sich ganz dem Tennis zu verschreiben. Der Verdienst ist zwar überschaubar, die Tagessätze für Linienrichter variieren je nach Größe des Turniers und liegen im niedrigen dreistelligen Euro-Bereich, dazu kommen anteilig Spesen für Anreise und Unterkunft. Der Offiziellen-Chef erhält eine festgelegte Entschädigung, deren Höhe Giese nicht beziffern darf. „Aber man kommt über die Runden, und der Spaß ist es wert“, sagt er.

Seine Frau, die er bei Ernst & Young kennenlernte, arbeitet dort noch in guter Stellung. Kinder hat das Paar keine, anders wäre es auch nicht möglich, dass er rund 25 Wochen im Jahr, von April bis November, durch die Welt reist. Und damit ist es ja nicht getan, denn seine Sportverrücktheit endet nicht am Tennisnetz. Matthias Giese ist großer Fußballfan, neben dem HSV ist in seinem Herzen auch viel Platz für Altona 93. Außerdem ist er beim HSV Handball ein Fan der ersten Stunde, und auch zu den Eishockeyprofis der Hamburg Freezers geht er regelmäßig.

Seine Frau teilt zu seinem Glück alle diese Leidenschaften; vorangegangene Beziehungen waren daran zerbrochen. Als sie 2008 heirateten, war der im Februar dieses Jahres verstorbene HSV-Kultmasseur Hermann Rieger ihr Trauzeuge. „Ich kannte Hermann vom Tennis, wo er ja auch als Masseur gearbeitet hat, und Nicole kannte ihn vom HSV-Training, das sie regelmäßig besucht hat“, sagt Giese. Er hat eine Gänsehaut, als er davon erzählt.

Es ist dieses Familiäre, das Rieger beim HSV wie kein anderer verkörperte, das Matthias Giese in seinem Job so schätzt. Natürlich hat es ihn anfangs fasziniert, viel von der Welt zu sehen. Städte wie Shanghai, wo er mehrfach zur ATP-WM einflog, hätte er wohl ebenso wenig besucht wie die Olympischen Spiele 1996 in Atlanta und 2012 in London. Bis auf Afrika hat er auf allen Kontinenten gearbeitet und sich fast überall so wohl gefühlt, dass er gern zurückkehrte. Aber das Wichtigste, das sind die Kontakte zu Menschen, die so ticken wie er. Menschen, die zu Freunden wurden, die manchmal für ein paar Tage zum Spontanbesuch einfliegen wie der Kollege aus St. Paul in den USA, oder die mehrere Wochen bleiben wie ein anderer Mitstreiter aus Australien. „Die Freundschaften, die dadurch entstanden sind, sind Gold wert“, sagt er.

Mindestens ebenso wichtig ist aber auch der Gegenpol zu seinen Weltreisen, den sich Giese für die Wintermonate geschaffen hat. Dann arbeitet er nämlich für den Hamburger Tennisverband, er ist Turnierleiter und Oberschiedsrichter für eine Reihe von Jugendveranstaltungen. „Für mich ist es schön, einige Monate am Stück zu Hause zu sein und trotzdem meinem Beruf nachgehen zu können“, sagt er. Die Fallhöhe, wenn er wenige Tage nach dem WM-Turnier bereits bei einer U10-Meisterschaft eingesetzt wird, empfinde er als kaum existent. „Ich gehe jedes Match mit derselben Professionalität an, egal ob da Weltstars spielen oder Namenlose. Und für mich ist das Engagement für den Verband auch eine Chance, etwas zurückzugeben dafür, dass ich früher als Jugendlicher Verbandstraining bekommen habe“, sagt er. Für den Nachwuchs ist es eine große Sache, von einem weltweit bekannten Linienrichter beäugt zu werden.

Natürlich kennen ihn längst viele Profis, vor allem die deutschen, auch wenn den Offiziellen eigentlich jeglicher Kontakt zu den Spielern untersagt ist. Die Verbände wollen damit jegliche Einflussnahme oder Bestechungsversuche unterbinden. Giese sagt, er habe derlei in den 30 Jahren seiner Tätigkeit weder selbst erlebt noch von Kollegen geschildert bekommen. „Aber Kontakt zu den Spielern gibt es natürlich trotzdem. Wenn man sich auf der Anlage sieht, grüßt man sich. Und wenn man sich häufiger sieht, kennt man sich irgendwann“, sagt er.

Mit einem früheren Daviscupspieler geht er seit dessen Karriereende gern ins Fußballstadion. Und Roger Federer, den Schweizer Superstar, kennt er gar noch aus dessen Zeit als Ballkind in Basel. „Damals war der Roger ein echter Psychopath, ein absolut schwieriger Fall. Der hat bei Matches am Rand gehockt und gesagt: ‚Die können ja gar nichts, ich hole später zehnmal mehr Titel als die.‘ Und nicht nur das hat er geschafft, sondern auch, sich zu einem absolut angenehmen Menschen zu entwickeln“, sagt er.

Wie viele Matches er bis heute an der Linie verfolgt hat, weiß Giese nicht zu sagen, es ist eine vierstellige Summe. Nur die Grand-Slam-Finals, also die Endspiele bei den vier wichtigsten Turnieren der Welt, zu denen die Australian Open in Melbourne, die French Open in Paris, die All England Championships in Wimbledon und die US Open in New York gehören, hat er gezählt.

Zwölf Herrenfinals in New York, sechs in Wimbledon, zuletzt Anfang Juli beim Fünfsatzkrimi zwischen Federer und Novak Djokovic, dazu vier in Paris, wo er 2011 der erste Nicht-Franzose war, der an der Linie sitzen durfte. Weil es meist die Aufschlaglinie ist, an der er platziert ist, kann er, wenn der Aufschlag gespielt ist, den Rest der Ballwechsel verfolgen. So hat er aus bester Position schon so viele hochklassige Tennisspiele gesehen, dass er unmöglich eins davon herausheben kann.

Natürlich ist Hamburg, das Turnier, bei dem alles begann, ein besonderer Ort für Matthias Giese. Hier erlebte er die schlimmsten Minuten seiner Laufbahn, als 1993 Günter Parche mit seinem Küchenmesser auf Steffi Grafs Rivalin Monica Seles einstach. Hier wurde er Zeuge einer Rauferei in der Umkleide, als sich 2003 der Argentinier Gaston Gaudio nach seiner Halbfinalniederlage auf Landsmann Guillermo Coria stürzte, weil dieser im zweiten Satz schwere Krämpfe vorgetäuscht und den dritten Durchgang dann 6:0 gewonnen hatte. Aber der Höhepunkt seines Jahres, das ist immer die WM zum Abschluss, die seit einigen Jahren in London stattfindet. „Dort ist jedes Match wie ein Grand-Slam-Finale, und die Atmosphäre ist genial“, sagt er.

Wie lange er noch durch die Welt fliegen will, um auf Tennisplätzen auf Linien zu starren, weiß Giese nicht zu sagen. Es gibt kein Turnier mehr, das ihn reizt und das er noch nicht besucht hätte. Das viele Fliegen fällt ihm von Jahr zu Jahr schwerer. „Ich sage nach der WM oft, dass ich keine Lust mehr habe. Aber wenn dann die Anmeldungen für die neue Saison kommen, packt es mich doch wieder“, sagt er.

Vom Weltverband ITF ist er vor zwei Jahren in die Goldkategorie befördert worden, die höchste Leistungsstufe, die ein Chief of Officials erreichen kann. Er könnte den Job nun bei jedem Tennisturnier der Welt ausüben. Aber er muss es nicht, und vielleicht ist das sein Antrieb: dass er selbst bestimmen kann, ob er lieber in New York und Shanghai arbeiten möchte. Oder in Schnelsen, Poppenbüttel und am Rothenbaum, um die Hymne seines Lieblingsclubs nicht nur auf seinem Mobiltelefon hören zu müssen.