Jeder Stadtteil hat seine eigene Geschichte. Der Historiker und Abendblatt-Redakteur Dr. Matthias Schmoock hat sich auf eine Zeitreise begeben

In vielen Stadtteilen lassen sich dörfliche Strukturen zumindest noch erahnen – von Billbrook kann man das aber nicht behaupten, auch wenn sich noch ein paar hübsche Häuser entdecken lassen. Naturbelassen ist diese Gegend schon seit ewigen Zeiten nicht mehr. Die Marschflächen an der Bille waren bereits im 13. und 14. Jahrhundert eingedeicht worden, und schon seit dem späten 14. Jahrhundert hatte die Fläche des heutigen Stadtteils zum Dorf Billwärder und damit zum Hamburger Landgebiet gehört.

In Billbrooks Geschichte finden sich zwar Bauernhöfe und, wie zum Beispiel auch bei Hamm, die Phase, in der wohlhabende Hamburger sich hier ihre Landsitze erbauen ließen. Aber klar ist auch, dass Billbrooks Status als Industriestandort schon früh unwiderruflich vorgezeichnet war. Ähnlich wie nebenan den Hammerbrook, hatte man auch das niedriger gelegene Sumpfgebiet (den Billbrook) im späten 19. Jahrhundert aufgeschüttet, um es baureif zu machen.

1912 wurde der westliche Teil des damals offiziell sogenannten Billwärder an der Bille abgetrennt und unter dem Namen Billbrook zum Vorort gemacht. Schon zu Beginn desselben Jahres war ein Bebauungsplan festgelegt worden, dessen Umsetzung sofort begann und Billbrooks Ausgestaltung zum Industriegebiet auf den Weg brachte. Dazu wurden jede Menge breite, schnurgerade Straßen angelegt und das Gelände mit Kanälen durchzogen, die einerseits den Boden entwässerten, andererseits als Transportwege zum Teil schiffbar waren. Schon nach wenigen Jahren wurde die Bille hier auch „norddeutsche Wupper“ genannt – in Anlehnung an den Fluss im Ruhrgebiet.

Nach Angaben der Geschichtswerkstatt Billstedt wurde Billbrooks Silhouette von mehreren chemischen Fabriken, einer Zinkhütte am Billbrookkanal und einem Metallwalzwerk mit einem mehr als 100 Meter hohen Zentralschornstein dominiert. Weithin sichtbar war die Zinkhütte, da sie ursprünglich sieben je 40 Meter hohe Schornsteine hatte. Ende der 1920er-Jahre mussten wegen ständiger Klagen aus der Nachbarschaft noch drei weitere gebaut werden, von denen jeder sogar 80Meter hoch aufragte. Während die vielen Industrieanlagen laufend modernisiert wurden, blieben manche der Billbrooker Wohngebiete weit hinter dem Entwicklungsniveau der restlichen Stadt zurück.

1929 wandte sich der örtliche Bürgerverein über das „Hamburger Fremdenblatt“ direkt an die Bürgerschaft, die Baubehörde und die Parteien und kritisierte die „unbefriedigenden und unzeitgemäßen Verhältnisse“ vor Ort.

Nach den enormen Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs war Billbrook eine Anlaufstelle für Flüchtlinge und ausgebombte Hamburger. 1952 lieferte die „Hamburger Freie Presse“ eine bittere Bestandsaufnahme der verwüsteten Gegend. Auszug: „Von 2000 auf 12.000 Personen hat die Bevölkerungszahl zugenommen. In diesen Tagen hat das Aufräumungsamt endlich begonnen, die Fußwege von den Trümmern zu befreien.“

Die Behelfsheime, in denen die Menschen damals leben mussten, waren zum Teil so einfach gebaut, dass die Gegend auch „Kistendorf“ genannt wurde. Eine Zeitung schrieb dazu: „Die Bewohner von Kistendorf leben alle ,unten‘ in der Marsch, zwischen Bille und Elbe. Sie leben (…) an Industriekanälen und Eisenbahngeleisen, Feuchtigkeit kriecht ihnen von unten her in die Häuser.“ Ab Ende der 1950er-Jahre erhielten die rund 6000 „Gartenkolonisten“ der Behelfssiedlungen dann Räumungsaufforderungen und Vorschläge für Ausweichquartiere. In Hamburg ging es wieder bergauf – und die Industrieanlagen brauchten auch in Billbrook mehr Platz.

Der Status Billbrooks als Industriestandort war schon früh unwiderruflich vorgezeichnet.