Jeder Stadtteil hat seine eigene Geschichte. Der Historiker und Abendblatt-Redakteur Dr. Matthias Schmoock hat sich auf eine Zeitreise begeben

Stellen Sie sich einen Spaziergang durch den heutigen Stadtteil Alsterdorf im Jahr 1895 vor. Wie sieht es dort aus? Winterhude ist bereits Stadtteil, Alsterdorf und Ohlsdorf sind aber noch Dörfer. Die bemerkenswertesten Einrichtungen im Umkreis sind die Rennbahn in Groß Borstel, die Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf), das Gefängnis „Santa Fu“ und der Ohlsdorfer Friedhof. Alles noch ziemlich neu – und umgeben von weiten Feld- und Wiesenflächen. „Von Südwesten zieht die alte Heerstraße, die heutige Alsterkrugchaussee, nach Norden in Richtung Kiel. Nur vereinzelt stehen Häuser an der wenig befahrenen Chaussee. Überall wogen Kornfelder im leichten Sommerwind (...) jenseits der lang gestreckten Alsterdorfer Straße, weiten sich die Alsterdorfer Felder bis an die Winterhuder und Steilshooper Grenzen. Hier führt der uralte Borgweg, die alte Heerstraße, durch die Alsterdorfer Feldmark auf das Sierichsche Gehölz, die Keimzelle des Stadtparks zu. An seinem Rande liegt einsam das Pulvermagazin der hamburgischen Garnison, das dem Ausbau des Stadtparks weichen muss.“ So steht es in einer vom örtlichen Bürgerverein herausgegebenen Chronik – schön beschrieben und gut nachvollziehbar.

Alsterdorf hatte zunächst unter dänischer Herrschaft gestanden (als Teil des Amtes Trittau). 1803 gab das Damenstift St. Johannis das bei Quickborn liegende Dorf Bilsen ab und erhielt im Tausch das damals noch ziemlich unwirtliche, wenn auch schön gelegene Dorf am Alsterlauf. Ein entscheidender Schritt in Richtung Hamburg war vollzogen. Um 1850 zählte Alsterdorf 148 Einwohner, die meisten lebten von der Landwirtschaft. 1860 hatte der engagierte Pastor Heinrich Matthias Sengelmann in Alsterdorf einen alten Bauernhof als Sitz für das Nikolas Stift gekauft. 1863 zogen die ersten behinderten Kinder hier ein – Keimzelle der weit über Hamburgs Grenzen hinaus bekannten sozialen Einrichtung. Die Alster mäanderte unweit davon in vielen Windungen durch eine einsame, waldreiche Gegend. Dort, wo heute die Sengelmannstraße verläuft, war eigentlich Schluss. Auf die gegenüberliegende Seite gelangte man über eine einfache Holzbrücke, die so hoch war, dass die damals dort fahrenden Schiffchen und Boote ungehindert passieren konnten. Die Einzigen, die sich in Scharen in Alsterdorf einfanden, waren – ähnlich wie nebenan in Winterhude – die Bleicher. Schöne Geschichten werden immer gern über diesen Beruf erzählt, und mancher hat sicher das Bild von rotwangigen Mädchen vor Augen, die auf Alsterdorfs frischen Wiesen große Wäschestücke in die Sonne legen.

Dass die Wahrheit weniger romantisch war, verdeutlicht der ehemalige Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen (1887 – 1979) in seinen Erinnerungen „Meine Arbeit, mein Leben“. Die Plätterinnen und Bleicherknechte in den um 1900 fast 30 einfachen Wäschereien schufteten unter oft primitivsten Arbeitsbedingungen für einen Lohn von zwei bis drei Mark – pro Tag, versteht sich. Und auch das ist zum Glück Vergangenheit: Laut Heimatforscher Armin Clasen hatten die Hamburger jahrzehntelang die Angewohnheit gepflegt, ihren Hausmüll auf Alsterdorfs Feldern umpflügen zu lassen. Doch die Zeiten änderten sich schnell, und es wurde immer städtischer in Alsterdorf.

Mit der „Bezirksverfügung der Kaiserl. Oberpostdirection in Hamburg“ erhielt Alsterdorf im Mai 1894 eine „Postagentur“, die sich etwas später an der Alsterdorfer Straße (damals noch Ohlsdorfer Straße) nachweisen lässt. An derselben Straße hatte auch der „Polizeiofficiant“ seit 1893 sein Büro. Um 1900 entscheiden die Stadtväter, die Alster nördlich der Hudtwalckerbrücke zu kanalisieren. Ursprünglich sollten vor allem die Transportwege vereinfacht werden, aber schließlich rückten Parzellierung und Verkauf der angrenzenden Grundstücke stärker ins Blickfeld. Es ging nun ganz klar darum, möglichst viele am Wasser liegende Grundstücke zu verkaufen. Unter Federführung von Oberbaudirektor Fritz Schumacher wurde die Alster in den Jahren 1914 bis 1928 neu eingefasst. Nachdem der Fluss in das neue Kanalbett gezwungen war, entwickelten sich Teile von Alsterdorf schnell zu einer „Adresse“, an der Braband- und der Inselstraße entstanden schicke Villenviertel. Prägender für das Erscheinungsbild Alsterdorfs sind die mehr als 300 roten Klinkerbauten der Gartenstadt, die in den 1920er- und 30er-Jahren errichtet wurden. Anders als bei anderen Gartenstädten erfolgten Erschließung und Bebauung aber nicht genossenschaftlich, sondern die Grundstücke gehörten von Anfang an privaten Eignern.

Ab 1900 wurde die Alster für die Boote kanalisiert. Aber es ging eigentlich darum, Grundstücke am Wasser zu verkaufen.