Jeder Stadtteil hat seine eigene Geschichte. Der Historiker und Abendblatt-Redakteur Dr. Matthias Schmoock hat sich auf eine Zeitreise begeben

Viele Hamburger glauben, dass die Bebauung der Stadt vor dem Zweiten Weltkrieg in nordwestlicher Richtung kurz hinter Eppendorf endete und dass heutige Stadtteile wie Eidelstedt, Niendorf und Stellingen erst in den Nachkriegsjahren richtig erschlossen und bebaut wurden. Faktisch waren sie aber schon lange gut ausgebaute Dörfer gewesen, die im Laufe der Jahre um Landsitze, Villen, Einzel- und Mehrfamilienhäuser mit zum Teil ausgedehnten Gartenanlagen ergänzt worden waren. Auch Niendorf hat eine lange (Bau)Tradition.

Über Jahrhunderte war die Gegend ein wichtiges Torfabbaugebiet: Ohmoor, Rahmoor und Schippelsmoor, im Norden des 1343 erstmals erwähnten Bauerndorfes liegend, lieferten den Torf, den die Stecher nach Hamburg und Altona verkauften. Es gab dabei so viel zu tun, dass die örtlichen Bauern während der Erntezeit über Arbeitskräftemangel klagten. Niendorf galt als nicht eben arm und hatte im Jahr 1891 schon 1000 Einwohner.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte – wie in vielen anderen Dörfern im stadtnahen Umkreis – ein grundlegender Wandel ein. Niendorfs Felder wurden zu beliebten Bauplätzen für die Villen und Landhäuser wohlhabender Hamburger, zugleich entdeckte man es als Naherholungsgebiet. Hoheluft und Lokstedt waren um 1900 sehr beliebte Ausflugsziele der Hamburger – und an den Wochenenden manchem schon zu überlaufen. Wer es weniger quirlig haben wollte, spazierte von Lokstedt, wo es seit 1892 eine Straßenbahnhaltestelle gab (seit 1898 dann für die „Elektrische“), über eine lang gezogene Chaussee, die damalige Hamburger Straße, in Richtung Niendorf weiter, um in den Gaststuben rund um den Marktplatz einzukehren oder eine lange Wanderung durch das idyllische Gehölz zu unternehmen. Die Chaussee wurde ausgebaut, heute heißt sie Kollaustraße.

Wie man in der „Kollauer Chronik“ nachlesen kann, fielen an längeren Feiertagen wie zum Beispiel Pfingsten die Hamburger und Altonaer Ausflügler zu Hunderten in Niendorf ein. Rühreier und Brot mit Schinken waren ein beliebtes Frühstück – Kostenpunkt: 1,40 Mark. Wegen der weiten, umständlichen Heimreise blieben viele über Nacht – die sie nicht selten im Freien verbringen mussten. Erst ab 1907 gab es eine eigene Haltestelle am Niendorfer Marktplatz – mehr als 70 Jahre lang. Eine düstere Anekdote aus dem Jahr 1919: Im Mai erschossen Einbrecher den Dorfnachtwächter, was zur Gründung einer Bürgerwehr führte.

Besonders an Markttagen war in Niendorf viel los. Der Oktobermarkt diente dabei auch als Kontaktbörse für potenzielle Arbeitnehmer: Arbeit suchende Mägde und Knechte banden sich ein Strohseil um den Arm, das sie erst ablegten, wenn eine neue Anstellung ergattert war.

1927 schloss sich Niendorf mit Lokstedt und Schnelsen zu einer Großgemeinde zusammen. Anfang der 1930er-Jahre regulierte man Tarpenbek und Kollau, sodass die Niendorfer Böden entwässert wurden. Als Folge setzte enorme Bautätigkeit ein, und allein zwischen 1931 und 1939 verdoppelte sich die Zahl der Einwohner auf fast 8000. Das alte Niendorf ging im Krieg unter. Bei zwei Luftangriffen im Juli und August 1943 starben insgesamt 24 Menschen. Der beliebte Dorfkrug Zum Bäcker, Schulhaus und Pastorat stürzten im Bombenhagel ein, Münsters Gasthof, seit 1936 Niendorfs erstes Kino, wurde vernichtet, genau wie rund 90 Gebäude im Ortskern.

Fast alle mit Reet gedeckten Häuser und Höfe brannten nieder – darunter der prächtige Hof Behrmann. Einige Anwesen konnten zwar wiederaufgebaut werden, aber Ende der 1950er-Jahre wichen sie dann endgültig dem Wohnungsbau.

In der Zeit danach veränderte Niendorf sein Gesicht stark, vor allem durch den Aus- und Umbau der vielen Verkehrsachsen wie Niendorfer Marktplatz, Friedrich-Ebert-Straße und Garstedter Weg. Aus dem Großteil des Ohmoors wurde Niendorf-Nord. Erahnen lässt sich das alte Niendorf beim Blick auf die Marktkirche. Sie sieht heute noch genauso schön aus wie bei ihrer Einweihung im Jahr 1770.

Niendorf war ein beliebtes Ausflugsziel – wegen der langen Heimreise blieben viele über Nacht im Dorf.