Von einer Zeitung wie dem Abendblatt hatte Axel Springer lange geträumt. Fast drei Jahre kämpfte er dafür, sie endlich auf den Markt bringen zu dürfen

Die Maß Bier auf dem Münchner Oktoberfest kostet zwei D-Mark. – In der britisch-amerikanischen Wirtschaftszone sollen demnächst monatlich 700.000 Paar Schuhe auf den Markt kommen. – Das Magazin „Der Spiegel“ wird von den Besatzern für zwei Wochen verboten, nachdem sich die niederländische Regierung über einen Bericht zur Krönung von Königin Juliana beschwert hat. – In Hamburg ist der erste „Lambretta“-Motorroller aus Italien (Preis: 1000 Mark) gesichtet worden. – Ein Strafrichter hat in einem hanseatischen Gerichtssaal öffentlich eine Verteidigerin gerügt, weil ihm ihre „starke Schminkauflage und die auffallend rot lackierten Fingernägel in Anbetracht der Not des Volkes unangebracht“ erschienen.

Es sind nur ein paar Kostproben dessen, worüber das Hamburger Abendblatt in seiner ersten Ausgabe vor 65 Jahren die Leser informierte. Aber sie verraten schon einiges über das gesamte publizistische Büfett, wie es den Menschen in der Hansestadt fortan regelmäßig geboten werden sollte.

Nein, solche Dinge wie die eingangs erwähnten, manche scheinbar belanglos, mussten die Leser nicht unbedingt wissen. Aber sie sollten – und wollten. Davon war Axel Springer überzeugt. Zwar fand auch die große Politik, in der es um das noch ungewisse Schicksal des besiegten und besetzten Deutschlands ging, reichlich Platz im Blatt. Doch dem jungen Verleger – er war 36 – kam es darauf an, der vorherrschenden parteigebundenen Presse endlich eine Zeitung entgegenzusetzen, die die Leser von der ersten bis zur letzten Zeile interessierte, eine Zeitung, die nicht (nur) den politischen Kopf ansprach, sondern den fühlenden Menschen mit seinem Bedürfnis, über das zu lesen, was im Leben passiert, was ihn entspannt und unterhält. Oder, wie Springer es nicht ohne Pathos formulierte: ein „geplagtes, armes Wesen, geschunden von den Stürmen der Zeit“, dem man „wohltun“ müsse.

Er traf offenkundig die Gemütslage der Bevölkerung ziemlich genau. Innerhalb von nur vier Stunden waren alle 60.000 Abendblatt-Exemplare des ersten Tages für je 20 Pfennig verkauft. Nach sechs Wochen hatte die Auflage 107.000 Stück erreicht, nach einem halben Jahr schon 170.000. Springer hätte bereits damals weit mehr verkaufen können, doch noch war das Papier knapp und das Erscheinen des Abendblatts auf drei Tage pro Woche beschränkt.

Gleichwohl hatte er einmal mehr ein außergewöhnliches Talent bewiesen: Sein engster Vertrauter Christian Kracht nannte es das „unheimliche Gefühl für den Wunsch des kleinen Menschen. Er wusste, was der kleine Mann auf der Straße lesen wollte.“ Und erst recht die Frau…

Mit dem Start des Abendblatts erfüllte sich Axel Springer nicht nur den lange gehegten Traum von einer eigenen Tageszeitung. Der Erfolg brachte ihn auch seinem Ziel näher, „das größte Verlagshaus Europas zu bauen“, sobald das freie Wort in Deutschland wieder gelten werde. So hatte er es sich in den letzten Tagen von Nazi-Herrschaft und Krieg vorgenommen. Worauf sein Vater zur Mutter sagte: „Ottilie, ich glaube, der Junge ist verrückt geworden.“ Und die Mutter entgegnete: „Heino, bei ihm weiß man das nicht so genau.“

Jedenfalls machte sich der Junior in der Stunde null unverzüglich auf seinen Weg. Der Verlegersohn aus Altona verfügte nicht nur über Erfahrungen als gelernter Drucker und Journalist, sondern auch über reichlich kreative Ungeduld. „Gewiss wollte er sich sofort nach dem Regimewechsel in Hamburg einen großen Namen machen, reich werden, schwerreich, er wollte den Eltern und Freunden imponieren, vor allem auch demonstrieren, wie man eine gute Zeitung machte, die von den Massen gekauft wurde“, notiert der Historiker Hans-Peter Schwarz in seiner Biografie „Axel Springer“ (Verlag List, 2009). Und er fährt fort: „Jedenfalls war der Wille, die schöne Frau Hamburg zu erobern, allem Anschein nach eine seiner stärksten Antriebskräfte.“

Doch einstweilen spielte da die britische Militärregierung nicht mit. Allenfalls Bücher und ähnliche Verlagserzeugnisse – mehr erlaubten die Besatzer nicht. Axel und Vater Hinrich Springer reaktivierten ihren von den Nazis geschlossenen Verlag Hammerich & Lesser, in dem sie einst die „Altonaer Nachrichten“ herausgebracht hatten. Verlagshaus und Druckerei an der Königstraße in Altona lagen seit April 1945 in Trümmern. Aber Axel Springer hatte noch Anfang der 40er-Jahre Zehntausende Bände mit belletristischer Literatur an verschiedenen Orten in der Lüneburger Heide eingelagert, ebenso Tonnen von Druckpapier. Die konnte er nun endlich zu Geld machen. Weihnachten 1945 erschien als erstes neues Produkt ein Abreißkalender mit dem Titel „Besinnung. Ewige Worte der Menschlichkeit“ (den Kalender gibt es übrigens bis heute).

Noch war das Medium der Stunde der Rundfunk. Die Sendungen des NWDR wurden in Hunderttausenden Haushalten des Nordens gehört. Aber warum sollten die Leute sie nicht auch lesen können? Sie sollten. Im März 1946 brachte Springer die erste Nummer der „Nordwestdeutschen Hefte“ mit Beiträgen aus dem NWDR-Programm heraus. Bald setzte der Verlag Monat für Monat 100.000 Hefte zu je einer Reichsmark in der britischen Zone ab.

Und das nächste Projekt war längst in Arbeit, es sollte sich als weitaus ertragreicher erweisen: eine Programmzeitschrift, die nicht nur wöchentlich die Sendefolge des NWDR bekannt gab, sondern auch die anderer deutscher und ausländischer Sender. Das erste Heft mit dem Titel „Hör zu“ erschien am 11. Dezember 1946 zum Preis von 30Reichspfennig. Die Auflage von 250.000 Stück war nach wenigen Stunden vergriffen. Der finanzielle Grundstein für den Erfolg des Konzerns war gelegt – und mit der Gründung einer Axel Springer Verlag GmbH Anfang 1947 durch Vater und Sohn Springer schließlich auch der organisatorische.

Doch gab es auch besorgte Stimmen. So äußerte Bürgermeister Max Brauer, Sozialdemokrat und Freund der Springer-Familie, die Befürchtung, „der junge Herausgeber und Verleger könnte sich übernehmen“. Springer selbst sagte später einmal von sich: „Ich bin ein Poet und Träumer.“ Gegenüber seinem Freund Felix Jud soll er überdies bekannt haben: „Mensch, ich brauch einen, der auf mich aufpasst, ich hab so viele Ideen, ich mach im Handumdrehen pleite, wenn keiner auf mich aufpasst!“

Der wurde alsbald gefunden: Ein Mann namens Karl Andreas Voss, gestandener Profi sowohl als Journalist wie auch als Verlagskaufmann, ordnete nüchtern und fachkundig die inzwischen vielfältigen Aktivitäten Springers, die 1947 um eine Lizenz zur Herausgabe der Frauenzeitschrift „Constanze“ zusammen mit John Jahr erweitert wurden. „Aber Springer erkannte genau, dass er vorerst nur einen Gemischtwarenladen sein Eigen nannte“, schreibt Schwarz. „Er würde erst über den Berg sein, wenn es gelänge, den Plan einer eigenen Tageszeitung zu verwirklichen.“

Das Konzept dafür stand schon lange, und das geplante Blatt sollte „Excelsior“ heißen. Doch noch ließen die Briten Axel Springer zappeln. Erst im Herbst 1947 mehrten sich die Signale, dass die Militärregierung womöglich doch die Lizenz für eine überparteiliche Zeitung in Hamburg vergeben würde. Die bis dahin bevorzugte parteigebundene Presse erfüllte weder die Leserbedürfnisse noch die journalistischen Maßstäbe der Engländer. Springer formulierte einen Antrag für ein Blatt, in dem der lokale Teil das Zentrum bilde, eine Zeitung, „die in die Familie Eingang findet“, die niveauvolle Allgemeinverständlichkeit garantiere und auf jede Schulmeisterei verzichte. Seine Ideen zielten auf einen in Deutschland völlig neuen Zeitungstyp nach angelsächsischem Vorbild. Nicht die Information sollte im Mittelpunkt stehen, sondern das Bedürfnis des Lesers nach einem harmonischen Zusammenleben. Springer schwor fortan seine Mitarbeiter darauf ein: „Behandelt mir diesen Leser schonend…, fragt euch, was diesem Leser wohltut, was er braucht, um seinen Alltag zu verstehen.“

Bei den Briten stieß der Antrag indes keineswegs auf ungeteilte Begeisterung, eben weil Springer bereits über etliche Lizenzen verfügte. Aber auch gegen seine vier Mitbewerber um eine Lizenz – einer von ihnen war Herbert Wehner – gab es Bedenken. Nun kam Springer das Glück zu Hilfe: Denn während das Lizenzverfahren im Gange war, übertrug die Militärregierung die Auswahl unter den Bewerbern an einen Beratenden Presseausschuss, den der Hamburger Senat ernannte. Und so war es kein Geringerer als der Erste Bürgermeister Max Brauer, der entscheidenden Einfluss nahm. In einem Schreiben an die Briten hob er Axel Springers „persönliche und politische Qualifikation“ hervor, die für das neue Projekt „wünschenswert und notwendig“ seien. Wenig später konnte Brauer seinem Freund verkünden: „Axel, jetzt kannst du deine Zeitung machen.“ Am 12. Juli 1948 hielt Springer die offizielle Lizenz Nr. 1 für das „Hamburger Abendblatt“ in den Händen.

Eilends musste jetzt die nötige Infrastruktur geschaffen werden. In seiner Privatwohnung an der Elbchaussee probierte der Verleger selbst Schrifttypen aus und klebte Musterseiten zusammen, dort konferierten auch die damals rund 20 Redakteure und wurde das Konzept verfeinert. Die Verlagsräume in einem Hinterhaus der Alten Volksfürsorge an der Außenalster wurden ausgebaut, Satztechnik, Schreibmaschinen und Auslieferungsfahrzeuge gemietet. Die Mittel dafür lieferte die hochprofitable „Hör zu“. Für den Bau einer eigenen Druckerei reichte es jedoch nicht. Springer pachtete Druckkapazitäten bei Broschek & Co. an den Großen Bleichen (heute Hotel Renaissance) – gegen den Widerstand der Broschek-Erben, die dadurch ihre Pläne für eine Wiederbelebung des „Hamburger Fremdenblatts“ gefährdet sahen.

Am 13. Oktober sollte es so weit sein, doch Springer war abergläubisch und verschob den Starttermin für sein Abendblatt auf den 14. Oktober, einen Donnerstag. Acht Seiten war die Zeitung dünn: Dem Titelblatt folgten die Meinungsseite, eine Hamburgseite, eine komplette Seite Anzeigen, dann die Sportseite (zur Hälfte mit Anzeigen belegt), eine Seite Unterhaltung/Kunst/Wissen mit Fortsetzungsroman, eine Seite Volkswirtschaft/Weltwirtschaft und schließlich die Bilderseite (heute „Aus aller Welt“) mit neun Foto-Geschichten sowie einem Aufmacher unter dem Titel „Hitler, Himmler und die Sterne“, Auftakt der Tagebuchaufzeichnungen eines Astrologen, der die Nazi-Führung beraten hatte.

Während viel Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Kultur (auch Max Brauer und Hans Albers waren dabei) mit Axel Springer ein rauschendes Premierenfest feierte, verspotteten Konkurrenten den Verleger als „Sternengucker“, der in „hoffnungsloser Position“ den Mut gefunden habe, hier in Hamburg eine neue Zeitung zu starten; die aber könne angesichts der gesättigten Zeitungslandschaft „nicht mehr erfolgreich operieren“.

Springer sollte sie Lügen strafen, auch und vor allem, indem er sich anfangs bis ins letzte Detail um die Dinge selbst kümmerte. Zwar war auch sein erster Chefredakteur Wilhelm Schulze ein gestandener Schreiber und Blattmacher, doch faktisch bestimmte Springer, was wie wo ins Blatt gelangte. Noch vor sieben Uhr in der Früh erschien er im Verlag, fischte in den Konferenzen kleine Zettel mit schonungsloser Kritik und neuen Ideen aus den Taschen seiner Maßanzüge.

Peter Tamm, einst Schifffahrtsredakteur, später Springer-Vorstandsvorsitzender, erinnert sich: „Seine Frage war immer wieder: ,Was interessiert die Leser daran wirklich?‘ Und: ,Haben wir das geschrieben?‘“ Für Springer selbst war es „die Zeit meiner eigentlichen Liebe zum Beruf“, wie er später einmal bekannte.

Übrigens: In England brachte eine Frau acht Tage nach ihrem ersten Sohn einen zweiten zur Welt. Eine solche Zeitspanne zwischen Zwillingsgeburten ist äußerst selten. – Die Kraftwagenproduktion in der britisch-amerikanischen Zone wurde im September um 2250 auf 7542 Fahrzeuge gesteigert. – Die US-Fluggesellschaft Pan American World Airways (PAA) hat den ersten Boeing-Stratosphärenkreuzer in Dienst gestellt. Er schafft die Strecke von New York nach London in zwölf statt in 14,5 Stunden.

Auch das erfuhren die Leser des ersten Abendblatts vor 65 Jahren.