„Es ist schlimm, wenn alles um einen herum stirbt“, sagt die 82-Jährige aus Eimsbüttel

Ein Leben lang war sie von Menschen umgeben. Jetzt ist Frau Hansen auf einmal allein und spricht nur noch mit der Frau an der Supermarktkasse: Wie geht es einem Menschen, den die Gesellschaft abgehängt hat – nur weil er alt ist?

Frau Hansen hat sich nie darüber Gedanken gemacht, dass sie einmal alt werden könnte. Und schon gar nicht darüber, dass sie alleine alt werden könnte. Jetzt sitzt sie hier und ist plötzlich 82. Alt fühlt sie sich noch immer nicht. Aber allein. Die Einsamkeit kam schleichend. Plötzlich war sie da, die Stille. Das Telefon klingelte nicht mehr, der Besuch blieb aus.

Frau Hansen sitzt auf ihrem lila gestreiften Sofa im Wohnzimmer. Draußen, im belebten Eimsbüttel, zieht das Leben vorbei. Ihr rötlich gefärbtes Haar hat Frau Hansen locker hochgesteckt. Ihr Blick ist wach und neugierig, sie wirkt viel jünger als 82. Frau Hansen ist eine sehr elegante Frau. Für ihren Stil hat sie früher viele Komplimente bekommen. Wenn sie heute auf die Straße geht, fühlt sie sich unsichtbar. Den Fernseher hat die alte Dame ausgeschaltet. Normalerweise läuft er den ganzen Tag. „Ich brauche diese Geräusche im Hintergrund“, sagt sie entschuldigend. Sie täuschen über die Stille hinweg, die sich in Frau Hansens Leben ausgebreitet hat. Die Freundin starb im vergangenen Jahr, auch ein Bekannter, der oft kam. Wann sie das letzte Mal mit jemandem gesprochen hat? Da muss Frau Hansen lange überlegen. Dann fällt ihr die Frau an der Kasse im Supermarkt ein. Aber das ist auch schon wieder drei Tage her. Und eigentlich war es auch nur ein kurzes „Danke“ und „Auf Wiedersehen“. Zählt das? „Es ist seltsam“, sagt Frau Hansen und lächelt, „im Supermarkt ist man umringt von Menschen und doch ganz allein.“

Knapp zwei Millionen Menschen über 80 Jahre leben in Deutschland allein. Jeder Vierte hat seltener als einmal im Monat Besuch von Freunden oder Bekannten, jeder Zehnte trifft überhaupt niemanden mehr. Vor allem in Großstädten vereinsamen Senioren zunehmend.

Es ist gar nicht lange her, da hat Frau Hansen hin und wieder morgens den Telefonhörer zur Seite gelegt, um auch mal etwas Ruhe zu haben. So viele Anrufe. So viele Bekannte. Wo die heute sind? „Alle tot“, sagt Frau Hansen.

Frau Hansen hat zwar einen Sohn. Aber der wohnt außerhalb der Stadt und führt sein eigenes Leben. Gegenüber wohnte bis vor Kurzem noch eine gute Bekannte. Wenn sie auf ihrem Balkon rauchte, winkte sie rüber. Und abends konnte Frau Hansen sehen, wenn bei ihr noch der Fernseher lief. Ein beruhigendes Gefühl. Jetzt ist die Frau mit ihrem Mann in ein Heim ans andere Ende der Stadt gezogen. „Komm mich doch mal besuchen“, sagte sie zum Abschied. Aber Frau Hansen weiß, dass sie sich nicht mehr wieder sehen werden. Das Laufen ist beschwerlich geworden. Eine Fahrt mit der U-Bahn wäre für sie eine kleine Weltreise.

An dem Tag, an dem Frau Hansen bewusst wurde, dass sie übrig geblieben war, gab ihr Anrufbeantworter den Geist auf. Er hörte einfach auf zu blinken. Da fiel ihr auf, dass seit Wochen niemand mehr draufgesprochen hatte. Es ist schlimm, wenn alles um einen herum stirbt“, sagt Frau Hansen, ohne ihr freundliches Lächeln abzulegen. „Man muss sich da fragen: Mein Gott, wann bin ich dran?“ Und wird dann jemand da sein, der es merkt?

Als Frau Hansen vor fast 40 Jahren in diese Dreizimmerwohnung zog, war Helmut Schmidt gerade zum Bundeskanzler gewählt worden. Sie arbeitete als Programmgestalterin im Kino, war ständig unterwegs und holte Filme wie „Westwärts zieht der Wind“ oder „Spiel mir das Lied vom Tod“ in längst abgerissene Hamburger Lichtspielhäuser wie das Urania oder das Esplanade Theater. Frau Hansen kramt einen Stapel alter Fotos aus einem Regal hervor. Die Fotos, die sie mit faltigen Händen auf dem Tisch ausbreitet, zeigen eine bildhübsche Frau, Typ Elizabeth Taylor, sehr schlank, sehr jung. Sie trinkt Bier mit Heidi Kabel oder plaudert mit Yves Montand. Frau Hansen war immer von Menschen umgeben, fast nie allein.

Mit ihrem Ehemann zog Frau Hansen Anfang der 1970er-Jahre in ihre heutige Wohnung. Immer wenn sie damals das Haus betrat, öffnete eine alte Frau, die im Erdgeschoss lebte, ihre Tür und starrte sie an. Ohne ein Wort zu sagen. „Das ging mir so auf den Keks, dass ich sie irgendwann ausgeschimpft habe“, lacht Frau Hansen. Erst viel später sei ihr klar geworden, wie einsam die Frau gewesen sein muss. „Wenn man jung ist, sieht man so etwas nicht. Jetzt denke ich oft an sie.“

Den Job im Kino hatte Frau Hansen schon vor langer Zeit aufgegeben. Ihr Mann arbeitete ja. Er hatte sich auch um alles in der Wohnung gekümmert. Er hatte die Schrankwand gezimmert und die schwere Lampe an der Decke angebracht. Seit er vor über 30 Jahren ausgezogen ist, weil er sich in eine andere Frau verliebte, ist die Zeit in der Wohnung stehen geblieben. Die Sektgläser, die Frau Hansen zur Hochzeit geschenkt bekommen hat, werden nur noch zum Abstauben aus dem Schrank genommen. Frau Hansen will kein Mitleid. Sie will wahrgenommen werden. Alle ein bis zwei Wochen bekommt Frau Hansen Besuch von einer Frau der „Aktion Augen auf!“. Das Stadtteilprojekt der AWO-Stiftung „Aktiv für Hamburg“ vermittelt ehrenamtliche Helfer an vereinsamte oder verwahrloste alte Menschen, die niemanden mehr haben. Oft ist es der Hausarzt, der sich bei der Organisation meldet. Wie viele Senioren allein in Hamburg in einer Parallelgesellschaft der Isolation leben, ist nicht zu sagen.

Frau Hansen will kein Mitleid. Sie will wahrgenommen werden. Ein paar Worte in der Schlange beim Bäcker – „das darf doch nicht zu viel verlangt sein“. Jammern will Frau Hansen nicht. „Eigentlich geht es mir ja ganz gut“, sagt sie. Da ist nur die Arthrose, die langsam Probleme macht, und der Ischias, der schmerzt. Und Diabetes hat Frau Hansen auch. Fast 30 Stufen trennen sie von der Welt da draußen. 30 Stufen, die für die 82-Jährige jeden Tag ein bisschen beschwerlicher werden. An guten Tagen schafft Frau Hansen den Weg bis zum Bäcker eine Straßenecke weiter. Immer öfter reicht es nur für das Eiscafé gegenüber. Dass sie hier mit anderen Menschen ins Gespräch kommt, ist jedoch selten. Mit ihrer spärlichen Rente muss sie sich ihre kleinen Ausflüge gut einteilen. Dabei würde sie sich doch gerade jetzt gerne etwas gönnen.

Frau Hansen hat so viele Geschichten zu erzählen. Von den goldenen Zeiten des Kinos, Gelegenheitsjobs als Mannequin oder Begegnungen mit Stars wie Josephine Baker. Aber sie hat niemanden, der ihr zuhört.

Seit ein paar Wochen plant Frau Hansen den Abschied von der Einsamkeit. Zwei Altenheime hat sie sich schon angesehen. Die Frau von der AWO begleitet sie dabei. Das Problem an Heimen, sagt Frau Hansen, seien nur die anderen Menschen, „die sind so alt“.

Frau Hansens Blick schweift durch das Wohnzimmer, das seit 40 Jahren ihr Zuhause ist. Sie betrachtet die Fotos, die Erinnerungen, die vielen Jazzplatten, die riesige Filmsammlung auf VHS-Kassetten. „Das passt doch alles nicht in ein Altenheim“, seufzt Frau Hansen. „Ich passe nicht in ein Altenheim.“ Vielleicht ahnt sie auch, dass es noch etwas Schlimmeres gibt als die Einsamkeit. Nämlich zusammen alleine zu sein.