Bei Stephan Samtleben kauft man gute Lektüre nicht, man erwirbt. Porträt eines Lesesüchtigen

Regale mit Büchern bis zur Decke, Vitrinen, verglaste Türen, alles eng, persönlich und gemütlich, nebenan ein winziger Wintergarten mit zwei kleinen Tischen und vier Stühlen: Dieser Laden ist eine Oase im Einerlei großer Handelsketten und ein Paradies für Individualisten: Bei Stephan Samtleben kauft man kein Buch, man erwirbt es. Diese Nuance ist eine Frage des Geschmacks. Und des Gefühls. Eine intensive Beratung durch den Inhaber, für den der Begriff Bücherwurm ein Kompliment ist, gehört dazu. Seine Selbsteinschätzung: „Ich bin auf entspannte Weise besessen.“

Samtlebens kleines Geschäft im Literaturhaus am Schwanenwik 38 ist ein Refugium seltener Art. Auf 40 Quadratmetern bietet der 60-Jährige 8000 Bücher auch abseits des Mehrheitsgeschmacks an. Wer Platz im Wintergarten findet und sich mit einem guten Band bei einem Kaffee oder Tee der Muße hingibt, wird höchstens durch den Alsterblick vom Lesen abgelenkt. Dass der Inhaber seine Leidenschaft für Literatur privat mit einem hohen Preis bezahlen muss, wird sich erst nach der dritten Tasse Tee herausstellen.

Erst einmal erzählt Stephan Samtleben von einer Gunst der Stunde im Jahr 1989, als sich sein Leben erheblich veränderte. Das Literaturhaus auf der Uhlenhorst suchte einen Betreiber für einen Buchladen gleich rechts vom Haupteingang. Sieben Bewerber aus Hamburg gab es, doch wünschten sich die Macher in der Hanseatenvilla aus der Gründerzeit frischen Wind von außen. Da kam der in Bad Schwartau geborene Ostholsteiner Samtleben gerade recht. Auf eine Notiz im „Börsenblatt des deutschen Buchhandels“ schickte er einen Dreizeiler mit kurzer Betonung seiner außerordentlichen Leidenschaft zum Buch. Drei Wochen später hatte er den Zuschlag.

„Plötzlich war ich selbstständig!“, sagt Samtleben. Es folgt ein Moment Schweigen, als könne er es auch 24 Jahre später nicht so recht begreifen. Vor dem Wechsel nach Hamburg hatte Samtleben Germanistik, Philosophie und Romanistik studiert, in Neumünster eine Buchhandelslehre absolviert, anschließend acht Jahre in diversen Buchläden in München, Eutin und Schleswig als Angestellter gearbeitet. Selbstständigkeit mit Büchern, das war sein Traum. Samtleben investierte sein Gespartes und noch ein wenig mehr, kaufte für etwa 70.000 D-Mark Bücher – und legte los. Sein Credo, damals wie heute: „Ich biete Stoff für süchtige Leser.“ So wie er selber einer ist. Massenware, die anderswo auf dem Grabbeltisch liegt, hat er nicht im Angebot. Aus Prinzip nicht. „Bei mir erhält der Kunde mehr als ein Buch“, sagt er. Damit meint Samtleben ein beratendes Gespräch, von dem unterm Strich beide Seiten profitieren. Er erzählt aus dem Literaturbetrieb, aus den Verlagen, von einem Autor – und erntet quasi im Gegenzug Geschichten und Informationen aus dem Leben des Besuchers.

Etwa die Hälfte dieser Gäste sind Stammkunden. Zu vielen hat sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. „Stephan Samtleben gehört zu einer raren Spezies Mensch“, weiß der frühere Fußball-Nationaltorwart und heutige Kunstmaler Rudi Kargus. „Ein Besuch bei ihm ist wie der Eintritt in eine andere Sphäre.“ Neben vielen Verlegern, Schreibern und Übersetzern zählen der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom und der Musiker Stefan Gwildis zur Kundschaft, die immer wieder gerne kommt. Im Band „Die beste Buchhandlung der Welt“, in dem 50 Autoren ihre allerliebsten Fundorte beschreiben, steht Samtlebens Laden auf der Titelseite.

Ein solches Geschäft macht reich. Aber anders. „Ich führe ein erfüllendes Leben mit ausgeprägtem Glückspotenzial“, sagt Samtleben. Nach wie vor steckt das Gros der Ersparnisse im Laden. Knapp 200 Regalmeter Bücher, das sei sein Kapital. „Und meine Birne“, fügt er hinzu. Für eine Altbauwohnung zur Miete am Rande Ottensens reicht es. So irdische Dinge wie Kontostände sind nicht die Triebfeder für Samtlebens Beruf als Berufung. Trotz einiger geschäftlicher Durchhänger in der Anfangszeit sowie der Insolvenz des Literaturhaus-Cafés jüngst hat er nie an Aufgabe gedacht: „Ich komme anständig über die Runden.“

Und so schwingt sich Stephan Samtleben morgens um zehn Uhr auf sein Treckingrad und fährt von zu Hause Richtung Uhlenhorst. Neun Kilometer hin, neun Kilometer zurück. 4000 Kilometer im Jahr, hat er ausgerechnet. Die ausgedehnten Fahrten durch die Provence, die Alpen oder Norddeutschlands Tiefebene während der Ferienzeit kommen hinzu. Ein weiteres Ziel ist die Radweltmeisterschaft der Senioren. „Ich lebe in einem wunderbaren Gefängnis“, sagt Samtleben. „Später aber möchte ich reisen. Zum Beispiel Marokko, Korsika, Deutschland.“

„Es ist ein aufreibendes, zeitintensives, jedoch lustvolles Dasein“, sagt Samtleben. Dem er jüngst jedoch privat Tribut zollen musste. Nach 32 Jahren verließ ihn Ende 2012 seine Ehefrau, eine Französin. Da auch die erwachsenen Töchter Claire und Charlotte aus dem Hause sind, herrschte Leere. Irgendwann reichte es ihm. Stephan Samtleben machte aus der Not eine Tugend und gründete eine Wohngemeinschaft. Jetzt sorgen eine junge Psychologin und ein Filmstudent aus Graz für Leben in der Bude: „Es ist eine neue Option, eine spannende Art des Zusammenlebens.“

Es ist ein aufreibendes, zeitintensives, jedoch lustvolles Dasein.