Aus nach 82 Jahren: Delikatessenladen in Winterhude fehlt wirtschaftliche Perspektive

Christine Kruizenga trägt Schwarz, und ihre Augen sind leicht gerötet. Zu vermuten wäre: Sie trauert, trauert gemeinsam mit ihrem Mann Geert-Jans um ihren Laden – ach, was Laden – um das letzte feudale Delikatessengeschäft seiner Art; um einen Nachbarschaftstreff mit Vollsortiment, in dem sich vornehme Hanseaten den Einkaufskorb hinterher- oder voraustragen lassen, seit 82 Jahren schon. Jetzt geht auch diese Tradition zu Ende: Nach Michelsen, Struckmeyer und Broders schließt nun auch Kruizenga an der Maria-Louisen-Straße für immer, und zwar schon zum 31. Oktober.

Aber Christine Kruizenga trauert nicht, jedenfalls nicht öffentlich. Schwarz mit ein bisschen dezentem Rot, das ist lediglich ihre tägliche Business-Kleidung, und ihre geröteten Augen sind auch nur Symptom eines Schnupfens.

Geweint wurde als die Kruizengas auf der ersten Betriebs-Vollversammlung in der Geschichte des Unternehmens ihren mehr als 20 Angestellten das Aus verkündeten. Verkünden mussten. Neben den Tränen gab es auch viel Verständnis. „Diese Entscheidung ist uns sehr schwer gefallen“, sagt Christine Kruizenga, „vor allem, weil wir ja im vergangenen Jahr, als mein Schwiegervater nach einem Unfall verstarb, noch einmal richtig angegriffen haben.“

An ihrem Sortiment mussten sie so gut wie nichts ändern, aber sie peppten die Schaufenster auf, ließen einen zeitgemäßen neuen Webauftritt gestalten, und sie eröffneten ihr Kruizenga Deli, wo man nun frühstücken oder mittagessen konnte; nebenbei bemerkt zu erstaunlich günstigen Preisen, wenn man sich die Qualität der angebotenen Speisen in Ruhe auf der Zunge zergehen lässt. So standen unter anderem Rindersaftgulasch mit Speckböhnchen und Butterkartoffeln (7,80 Euro) und eine Paella mit Venusmuscheln und Scampi (9,50 Euro) auf der Karte. Da kann man nicht meckern.

„Es haben schon Stammkunden angerufen und solche Dinge gefragt wie ‚Wo soll ich denn jetzt mein Mineralwasser bestellen?’ oder ‚Und wo kriege ich jetzt meinen wunderbaren Katenschinken her?‘“, sagt Christine Kruizenga und fügt hinzu, dass man vom Partygeschäft allein nicht leben könne, zumindest nicht mit einem Delikatessengeschäft im Rücken, in dem sich alles um exquisite Qualität plus einem außergewöhnlichen, persönlichen Service dreht. Und auch das Geschäft mit den legendären Präsentkörben sei seit dem Sparzwang, der seit Jahren in Firmen herrsche, erheblich zurückgegangen.

Hinzu kämen fehlende Parkplätze und durch den Generationswechsel leider auch völlig veränderte Einkaufsgewohnheiten, die die Branche eh schon grundlegend verändert hätten. „In einem modernen, gut sortierten Supermarkt finden die Kunden inzwischen so gut wie alle Delikatessen, die auch wir anbieten. Zwar mit weniger Service, aber dafür natürlich auch günstiger“, sagt die Geschäftsfrau. „Erschwerend kommt für uns noch hinzu: Wir haben einfach keine Laufkundschaft.“

Bei genauerer Betrachtung ist die Ladenzeile, in der sich das Geschäft befindet, wirklich arg dezimiert; vor allem die Maria-Louisen-Straße in Richtung Dorotheenstraße hinauf. Im Schaukasten der ehemaligen Topas-Bar, die schon seit mehr als 20 Jahren geschlossen hat, hängen sogar noch die Getränkekarten mit D-Mark-Preisen, daneben warten zwei weitere leere Läden auf Mieter, und dann kommt direkt am Kanal der Schandfleck schlechthin: eine stillgelegte Baustelle, ein Trümmergrundstück, auf dem übermannshohe Schmetterlingsbäume wuchern.

Christine Kruizenga hat Betriebswirtschaft studiert, sie hat beinahe ein halbes Jahr lang gemeinsam mit ihrem Mann und einigen Experten aus der Branche hin- und her gerechnet. Bis sicher feststand, dass sich ihr Geschäft eben nicht mehr rechnen würde.

Am 26. August ging dann ein Brief an ihre vielen Tausend Kunden raus, in dem sie ihre Entscheidung verkündeten. Darin heißt es unter anderem: „Im Ergebnis ist unser serviceorientiertes Familienunternehmen auf der relativ kleinen Ladenfläche, trotz aller Anstrengung, heute nicht mehr wirtschaftlich zu führen. Unser Konzept, das über Jahrzehnte erfolgreich war, ist nicht mehr zeitgemäß. Eine Tatsache, die wir akzeptieren müssen.“ Ehrlicher, honoriger, hanseatischer geht es wohl kaum, obwohl die Kruizengas aus Ostfriesland stammen und die Chefin aus dem Hunsrück. Aber sie wollen einen sauberen Schnitt, und keine verbrannte Erde hinterlassen.

Unser Konzept ist nicht mehr zeitgemäß. Eine Tatsache, die wir akzeptieren müssen.