Schüler mit einem IQ über 130 müssen besonders gefördert werden. Doch die meisten haben andere ganz Probleme

Beeke Müller ist 13 Jahre alt und besucht die zehnte Klasse. Wenn alles nach Plan läuft, wird sie mit 16 ihr Abi in der Tasche haben. Beeke ist hochbegabt, ihr Wissensdrang enorm. Bekommt ihr Gehirn keinen Input, geht es ihr schlecht. Damit ist sie kein Einzelfall. Jan Kwietniewski von der Hamburger Beratungsstelle für besondere Begabungen (BbB) geht davon aus, dass zwei bis drei Prozent der Kinder an allgemeinbildenden Schulen hochbegabt sind. Auf Hamburg heruntergerechnet wären das 3500 bis 4000 Schüler. Als hochbegabt gilt, wer einen Intelligenzquotienten hat, der höher ist als 130.

„Es gibt meiner Erfahrung nach nicht mehr Hochbegabte als früher, aber mehr Eltern, die ihre Kinder dafür halten“, sagt die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Gabriela Küll. „Viele Eltern lassen ihre Kinder testen, weil sie sich erhoffen, durch die Diagnose Hochbegabung eine Erklärung für die Schwierigkeiten ihrer Kinder in der Schule zu bekommen.“ Tatsächlich stellt die Beratungsstelle nur bei einem geringen Teil der 300 Kinder, die dort beraten werden, eine Hochbegabung fest. Im vergangenen Jahr waren das etwa 20. Auch Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort, der seit 2004 in Altona eine Hochbegabten-Ambulanz betreibt, sagt: „Die meisten Kinder mit Verdacht auf Hochbegabung sind es nicht.“

Beeke hat ihren ersten Test mit drei Jahren im UKE gemacht. Ihre Mutter Tomke Müller war selbst als hochbegabtes Kind stets unterfordert und unglücklich gewesen. Dieses Schicksal wollte sie ihrer Tochter ersparen. Mit dem Testergebnis in der Tasche machte sie sich auf die Suche nach einer Schule für Beeke. Damals waren gerade die sogenannten Schmetterlingsschulen, Grundschulen mit Angeboten für besonders begabte Kinder, ins Leben gerufen worden: 17 Schulen für das ganze Stadtgebiet. Tomke Müller wusste aus eigener Erfahrung, dass an den meisten Regelschulen für Hochbegabte kein Platz ist. Wer nicht genug gefördert wird, reagiert oft mit extremen Verhaltensauffälligkeiten, von Stören und Unaufmerksamkeit bis zu Depression und Schulverweigerung. „Begabtenförderung ist an Hamburgs Schulen ein Glücksfall“, sagt Jaana Rasmussen vom Regionalverband der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind (www.dghk-hh.de). Hochbegabte würden oft mit Hochleistern verwechselt: Gefördert werde nur, wer leistungsstark und sozial angepasst sei. Sie fordert daher, dass Begabtenförderung strukturell als verpflichtendes Modul in Schulsystem und Lehrerausbildung integriert wird. Rückenwind bekommt sie von der FDP. Schon im März hatten die Liberalen ein schulisches Gesamtkonzept für die Förderung von hoch- und besonders begabten Schülern gefordert. Kurz bevor dieses im Schulausschuss verhandelt werden sollte, präsentierte die SPD einen eigenen Antrag. Nun muss erneut beraten werden.

„Die Begabtenförderung in Hamburg kann sich bundesweit sehen lassen“, sagt dagegen Jan Kwietkniewski von der BbB (www.li.hamburg.de/bbb). Es gebe viele Möglichkeiten, besonders begabten Kindern durch bestimmte Aufgabenstellungen, Gastbesuche in einer höheren Klasse oder das Überspringen einer Klassenstufe gerecht zu werden. „Die Schulbehörde tut ihr Bestes“, sagt auch Professor Michael Schulte-Markwort. Der Fehler liege im System: Die Klassen müssten kleiner, die räumlichen Bedingungen für Lehrer und Schüler besser werden.

Beeke wurde an der privaten Brecht-Schule eingeschult, die im Raum Hamburg führend in der Begabtenförderung ist. Die Schüler werden durch individuelle Förderung, Exzellenzkurse, Teilnahme an Wettbewerben, Fördermaßnahmen für „Minderleister“, mit Juniorakademien und Juniorstudium motiviert. „Es reicht nicht, nachmittags einen Philosophiekurs anzubieten, wenn sich die Schüler am Vormittag gelangweilt haben“, sagt Schulleiter Klaus Nemitz. Selbst Vater eines hochbegabten Kindes, gründete er die Schule 2001 mit einer fünften Klasse und acht Schülern. 2005 wurde die Einrichtung durch eine Grundschule erweitert, heute wird sie von 1250 Schülern besucht – hochbegabt sind 135 Grundschüler, 200 Gymnasiasten und einige Stadtteilschüler.

Neben der Brecht-Schule und der ebenfalls privaten OKO Talent Schule gibt es in Hamburg mit den Schmetterlingsschulen auch an den staatlichen Schulen Förderangebote für besonders begabte Kinder. Etwa an der Grundschule Forsmannstraße. „Wir sind keine Schule für Hochbegabte, sondern eine Grundschule für begabungsentfaltenden Unterricht“, sagt Schulleiterin Ruth Jakobi. Die Zahl ihrer hochbegabten Schüler sei höher als üblich. Drei bis vier Kinder eines Jahrgangs (rund 70Schüler) hätten eine diagnostizierte Hochbegabung. Damit die Schüler ihre Begabungen entdecken können, hat die Schule ein eigenes Konzept. Ab der dritten Klasse gibt es Talent-Kurse, deren Themen die Kinder vorgeben. Dabei finden die Kinder Fragen, zu denen sie selbstständig ein halbes Jahr arbeiten. Wer sich trotzdem unterfordert fühlt, kriegt „Extrafutter“. Reichen diese Maßnahmen nicht, überspringt das Kind eine Klassenstufe.