Die Singakademie Hamburg wurde bereits 1819 gegründet – geprobt wird in Stellingen

Singen ist nicht allein Wohlgefühl im Hier und Jetzt, Singen ist auch gelebte Geschichte. Vor allem beim ältesten aktiven, gemischten Chor der Hansestadt, der Singakademie Hamburg. 1819 gegründet als Gesellschaft der Freunde religiösen Gesangs, trägt das Ensemble seit 1844 seinen heutigen Namen. Traditionsreiche Familien wie die Mönckebergs und Sievekings ertüchtigten sich künstlerisch in klangvoller Runde. Nachzulesen sind derlei Fakten in einer vierbändigen, handgeschriebenen Chronik, die in der Staatsbibliothek aufbewahrt wird.

Weitergeführt wird dieses Chor-Tagebuch von Ulrike Marschner-Ruthof. Die feinsinnige Frau mit dem kurzen grauen Haar und dem wachen Blick, die seit 1971 als Sopran in der Singakademie mitwirkt, ist Diplom-Bibliothekarin. Gern schmökert die 64-Jährige ab und an in den alten Aufzeichnungen. Sie liest von Konzerten, Reisen und Chorleiterwechseln. Mit wie viel Stimmen ein Vorstand gewählt, wo nach der Probe getrunken wurde.

„Die knapp 200 Jahre habe ich aber beim Singen nicht ständig vor Augen, sonst kommt man nicht voran“, sagt Marschner-Ruthof entschlossen. Es ist kurz vor der Probe im Gemeindehaus in der Stellinger Melanchthonstraße. Der Saal atmet 50er-Jahre-Charme. Kugelige Lampen unter hoher Decke. Eine Bühne mit samtrotem Vorhang vorne, eine holzverkleidete Wand hinten. Weiße Lochgardinen vor den Fenstern. Rosemarie Walter, die seit 1994 im Sopran singt, pflichtet ihrer Chorkollegin bei: „Wir sind zwar klassischen Werken verbunden, aber wir richten den Blick auch nach vorne, hin zu zeitgenössischen Komponisten“, erklärt die 63-Jährige, die lange als Verlagssekretärin gearbeitet hat. Auf der Webseite verkündet die Singakademie ihre Haltung zur eigenen Historie mit einer gewissen Selbstironie: „Wir haben eine lange Tradition. Aber das stört nicht!“ Stimmt.

Beim Einsingen machen sich die 45Mitglieder erst mal locker. Dehnen. Das Gesicht massieren. Mit einem „Wihihihi“ den Kiefer lösen. „Das i bis unter die Schädeldecke klingen lassen“, fordert Jörg Mall. Der 37-Jährige, der an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater studierte, leitet insgesamt vier Gruppen vom Jugend- bis zum Kammerchor. Seit Juli 2011 gehört die Singakademie zu seinem tönenden Portfolio. Mall ist ein Mann mit ruhiger Präsenz, der stets ein Lächeln trägt. Auch in den Augen. Als die Gruppe Robert Schumanns „Es sei verraten“ aus dem Jahr 1849 anstimmt, fließen seine Arme. Und als seine Sängerinnen und Sänger arg konzentriert über ihre Notenmappen hinweg schauen, fügt er an: „Es geht um Liebe, das darf euren Gesichtern ruhig anzusehen sein.“ Gelächter in der Runde. Erneut beginnt Jürgen Lamke am Flügel, die Melodie mit ihrem Bolero-Rhythmus zu spielen.

Lange Zeit orientierte sich das Repertoire am Saisonprogramm der Hamburger Philharmoniker, an die die Singakademie von 1872 bis 1990 gebunden war. Viele der Dirigenten waren zugleich die Chordirektoren der Staatsoper. Darunter finden sich so klangvolle Namen wie Wolfgang Sawallisch und Ingo Metzmacher. Doch das Orchester wollte letztlich auch andere Chöre in sein Spiel einbinden, die Singakademie wiederum suchte Herausforderungen jenseits der Philharmonischen Konzerte in Laeiszhalle und Michel.

Mit der neu gewonnenen Freiheit ein eigenständiges Profil zu entwickeln sei nicht einfach gewesen, erinnert sich Walter. Aber letztlich konnte die Singakademie ihr Klangspektrum mit kontemporärer Musik von Bernstein über Schnittke bis zu Theodorakis sowie mit seltener gehörten Werken klassischer Komponisten von Händel über Liszt bis Brahms erweitern. Für Jörg Mall ist es „eine besondere Aufgabe, das Erbe zu pflegen und weiterzuentwickeln“. So wird auch er zum Teil der Geschichte.

Nach „Chören, die begeistern“ suchte das Hamburger Abendblatt, mehr als 55 Chöre schickten Videoclips ein. Sieben von ihnen werden porträtiert. Videos der vorgestellten Chöre: www.abendblatt.de