Victor Horvath liest ungewöhnliche Geschichten. Er entdeckte erst als Rentner das Schreiben

So ein wenig schaut er wie der freundliche Opa aus der Fernsehwerbung für Sahnebonbons aus. Die grauen Haare sind spärlich, der Schnurrbart ist buschig, das kleinkarierte Sakko mit den ledernen Ellenbogenschützern klassisch. Aber seine Augen, die funkeln listig. Er hat auch keinen Enkel auf seinem Schoß, sondern das Manuskript seiner jüngsten Kurzgeschichte. Sie heißt „Eine postnatale Entwicklungsgeschichte“, und die wird Victor Horvath, 73, gleich vorlesen.

Im Mathilde-Literaturcafé an der Bogenstraße ist er Lokalmatador. Einmal hat er sechsmal hintereinander den Slam gewonnen. Das war ihm so peinlich, dass er sich für ein paar Monate zurückzog. Doch heute ist er in sein „Wohnzimmer“ zurückgekehrt und wartet, mit einem kühlen Glas Weißwein und der Gelassenheit des Alters, bis er dran ist.

„Mein Name ist Victor Horvath. Ich stamme aus Budapest, bin aber schon mit 24Jahren nach Hamburg gekommen, und ich lege keinen Wert auf die Feststellung, dass ich nicht mit Ödön von Horvath verwandt bin.“ So hat er sich vorgestellt, und das lässt schon mal erahnen, in welche Richtung seine Kurzgeschichten gehen, die bei den zumeist jungen Zuhörern ziemlich häufig ziemlich gut ankommen. Bei den Hamburger Meisterschaften war Horvath schon mal Dritter.

Eigentlich ist er aber Architekt. Das Schreiben, sagt er, habe er erst kurz vorm Rentenalter für sich entdeckt, als die Eltern des Abiturjahrgangs, dem auch sein Sohn angehörte, aufgefordert worden seien, zur Abschlussfeier etwas beizutragen. Horvath setzte sich hin und schrieb eine Geschichte aus seiner Jugend auf. „Die meisten Geschichten spielen zwischen dem zehnten und dem 30.Lebensjahr“, meint er, das seien ja auch wohl die entscheidenden Jahre.

„Victor war schon immer ein extrem mitteilsamer Mensch“, unterbricht seine Frau Kordelia, die ihr Alter (60 Jahre) nicht verschweigt, weil sie locker für unter 50 durchgehen würde. „Seine Lesung im Johanneum kam damals jedenfalls sehr gut an. Also schrieb er weiter. Aber jetzt bist du dran, Victor!“

„Ist sie nicht eine Augenweide?“, lächelt er, „und das seit 40 Jahren schon. Was hab’ ich nur für ein Glück.“ Mit diesen Worten erhebt er sich, nimmt an dem kleinen runden Lesetisch Platz und kämpft – wie alle Teilnehmer vor ihm – erst mal mit dem klapprigen Mikrofonständer.

Horvaths „Postnatale Entwicklungsgeschichte“ handelt von Monstern. Das Thema ist, wie an jedem ersten Dienstag im Monat üblich, von den Veranstaltern vorgegeben, und bei Horvath sind es – natürlich – die Frauen, die kurz nach der Eheschließung zu Ungeheuern mutieren. Was dann drei ältere Männer, Freunde, am Stammtisch im Kaffeehaus feststellen. „Du hast mit 28 noch kein Gehirn im Kopf, sagt Kovacs“, liest Horvath mit seinem starken ungarischen Akzent, um den ihn so mancher seiner Konkurrenten beneidet; ein hübscher, gemütlicher Singsang, der nichts Böses ahnen lässt.

„Erst kurz nach der Heirat fängt das Gehirn zu denken an, oft mit dem Ruf beginnend: O Gott, das darf doch nicht wahr sein!“, fährt Horvath fort. „Männer versuchen es mit Gedächtnisverlust. Sie schauen ihre Frauen an und fragen: Sie sollen meine Frau sein? Ich sehe Sie zum ersten Mal...“

Die männlichen Zuhörer lachen leise auf. Ihre Begleiterinnen aber auch. „Victors Geschichten stammen immer aus dem wahren Leben“, sagt Thomas Langkau, ebenfalls ein erfahrener Hamburger Slammer, der im Hauptberuf Lehrer ist und an diesem Abend das Publikum mit dem „Monster Atomkraft“ zu überzeugen versuchte. Sie kämen in der Regel heiter daher, aber dann folge auch schon prompt die Gemeinheit. Für ihn keine Frage: Horvath sei immer ein ernst zu nehmender Konkurrent. Und das hört sich dann so an: „In den darauf folgenden 30 Jahren betreibt man dann ausschließlich Schadensbegrenzung. Wenn du als 60-Jähriger einen Kontostand von plus minus null hast, kannst du von einem erfüllten Leben sprechen (...) Habt ihr euch schon einen alten nackten Mann mal so richtig angeschaut? In den Krimis werden sie meistens erst gezeigt, wenn man sie aus dem Gefrierfach zieht, wohltuend in ein weißes Laken gewickelt. „Bei meiner Frau klingt das anders“, fuhr Szabo dazwischen. ,Sie sagt: Es gibt auch Männer, die sich im Laufe der Zeit positiv verändern, sie werden zum Beispiel reich.‘“

Er könne nicht anders erzählen, sagt Horvath nach seiner fünf Minuten langen Lesung, denn so sei er eben, der Budapester Humor. „Es geht mir ja in erster Linie darum, nicht einzurosten. Aber natürlich nehme ich jeden Wettbewerb ernst und natürlich ist es schön, wenn den Zuhörern die Geschichte so gut gefällt, dass sie ohne Wenn und Aber für dich stimmen.“

An diesem Abend geht Victor Horvath jedoch leer aus. Die demokratische Punkteverteilung der Gäste sieht Thomas Langkau auf dem ersten Platz, die Podiumsplätze werden in der Mathilde niemals bekannt gegeben. „Aber Victor weiß eigentlich ganz genau, wo er steht“, sagt seine Frau Kordelia und streicht ihm zärtlich über den Kopf. Nicht alle Frauen seien schließlich Monster.