Die Behörden im Bezirk Mitte ziehen Lehren aus dem Fall Chantal. Familien erhalten Unterstützung

Gut ein Jahr nach dem tragischen Methadontod der elfjährigen Chantal hat der Jugendhilfeausschuss (JHA) im Bezirk Mitte eine Liste von Maßnahmen beschlossen, um einen ähnlichen Fall künftig zu verhindern. Der Ausschuss stimmte der Einrichtung einer Ombudsstelle zu. „Diese Stelle wird alle Beschwerden, die im Jugendamt Mitte eingehen, unabhängig prüfen“, sagte der JHA-Vorsitzende Ralf Neubauer (SPD) dem Abendblatt. Der Ausschuss wolle damit insbesondere für Kinder und Jugendliche einen neutralen Ansprechpartner schaffen, so der Finkenwerder Bezirksabgeordnete weiter. Bezirksamtsleiter Andy Grote (SPD) kündigte darüber hinaus an, dass Mitte in diesem Zusammenhang eine Vorreiterrolle spielen wolle.

Der Tod der elfjährigen Chantal hatte bundesweit für Entsetzen gesorgt. Das Mädchen war im Januar 2012 in Wilhelmsburg an einer Methadonvergiftung gestorben. Der Drogenersatzstoff stammte von seinen Pflegeeltern, die das Methadon ungesichert aufbewahrten. Die damalige Jugendamtsleiterin Pia Wolters und der Leiter des Bezirksamts Mitte, Markus Schreiber (SPD), mussten deshalb gehen.

Später stellte sich heraus, dass es niemals zu dem Pflegschaftsverhältnis hätte kommen dürfen. Die Mitarbeiter des Jugendamts Wilhelmsburg kannten die schwierigen Lebensverhältnisse der Pflegeeltern und die Vernachlässigung der Kinder. So heißt es etwa im Bericht der Innenrevision der Finanzbehörde wörtlich: „Dem Jugendamt waren die Familienverhältnisse, die Drogenabhängigkeiten der Pflegeeltern, der Wohnungszustand (...) bekannt.“

In dem Bericht ist außerdem von 17 aktenkundigen externen Hinweisen auf schwierige Lebensverhältnisse in der Pflegefamilie die Rede, denen nicht oder nicht ausreichend nachgegangen wurde. „Besonders erschreckend ist, dass offenbar auch Hinweisen des Kindes selbst, nach Gesprächen mit der Pflegemutter, jeweils nicht mehr weiter nachgegangen worden sein soll“, sagt Ralf Neubauer.

Die Staatsanwaltschaft hatte gegen die Pflegeeltern Wolfgang A. und Sylvia L. bereits im August 2012 Anklage wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht erhoben. Den Pflegeeltern droht eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren.

Neben der Einrichtung einer Ombudsstelle soll auch der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) mehr in die Pflicht genommen werden: Der Jugendhilfeausschuss hat beschlossen, dass ASD-Mitarbeiter des Jugendamtes Mitte sich künftig regelmäßig von jedem Kind und jedem Jugendlichen in seiner Zuständigkeit durch „persönliche Inaugenscheinnahme“ einen eigenen Eindruck verschaffen soll. „Der persönliche Kontakt und Eindruck ist durch nichts zu ersetzen“, heißt es in dem Beschlusspapier.

Im Fall Chantal hatte es zwar Hausbesuche gegeben, aber keine durch ASD-Mitarbeiter, die für die Elfjährige zuständig waren. „Das ist erschreckend und wird es so in Zukunft nicht mehr geben“, sagt Neubauer.

Außerdem hat der Jugendhilfeausschuss beschlossen, dass insbesondere Pflegekinder künftig nach Möglichkeit auch in Abwesenheit ihrer Pflegeeltern beziehungsweise leiblichen Eltern nach ihren persönlichen Verhältnissen befragt werden sollen. Konflikte mit dem Elternrecht seien dabei wahrscheinlich, räumt Neubauer ein. Aber: „Kinder und Jugendliche haben einen gesetzlichen Anspruch auf vertrauliche Beratung durch das Jugendamt in allen Not- und Konfliktlagen“, so Neubauer.

Bezirksamtsleiter Andy Grote begrüßt die Beschlüsse des Jugendhilfeausschusses. „Das unterstützt uns in unserer Arbeit. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Mitgliedern des Jugendhilfeausschusses. Wir werden die Empfehlungen bestmöglich umsetzen“, sagte er. Der Beschluss fügt sich ein in die Maßnahmen der Stadt, welche die Sozialbehörde auf den Weg gebracht hat. Dazu gehört etwa eine strengere Überprüfung von Pflegeeltern.

Wer heute ein Kind bei sich aufnehmen möchte, muss ein erweitertes Führungszeugnis sowie einen Drogentest für alle volljährigen Familienangehörigen vorweisen und an einer professionellen Vorbereitung auf die Pflegeelternzeit teilgenommen haben. Außerdem hat die Sozialbehörde mit den Akteuren der Suchthilfe den Schutz von Kindern drogenabhängiger Eltern neu geregelt und eine Jugendhilfeinspektion eingeführt.

Der Bezirk Mitte hat sich außerdem mit dem massiv in die Kritik geratenen ASD Wilhelmsburg beschäftigt. Externe Berater unterstützen die Mitarbeiter. Es gibt Gespräche zur Teamentwicklung und Arbeitsaufteilung. Grote verfolgt damit ein klares Ziel: „Der ASD Wilhelmsburg soll der beste in ganz Hamburg werden.“

Auch Peter Marquard, Jugendamtleiter in Mitte, strebt die Vorreiterrolle in der Stadt an. Mit seiner Abteilung hatte der Jugendhilfeausschuss die nun beschlossenen Maßnahmen im Vorfeld diskutiert. Diese sollen nun auch mit der federführenden Sozialbehörde abgestimmt werden. Marquard: „Wir wollen uns als Modellstandort in Hamburg anbieten.“