Im Herbst 1945 gingen sie alle in Ottensen zur Schule. Bis heute treffen sich die Männer zum Klönen

Sie waren ausgehungert, aber lebenslustig: Im Herbst 1945 kamen 59 Buttjes in der Klasse 4b der Knaben-Volksschule Karl-Theodor-Straße in Ottensen zusammen. Für die Kinder war es ein Neustart nach schrecklichen Kriegsjahren: In Hamburg konnte zuvor fast zwei Jahre kein regulärer Unterricht organisiert werden. Es war aber auch der Beginn einer Freundschaft, die ein Leben lang hielt. Bis heute. Jetzt trafen sich die Schüler von damals wieder, wie so oft in den vergangenen 68 Jahren.

Treffpunkt Raucherkneipe Alt Ottensen an der Holländischen Reihe. Das Köpi zischt gut aus dem Fass. Und die fünf Herren, allesamt zwischen 76 und 79 Jahre alt, haben sich eine Menge zu erzählen. Einer von ihnen, der pensionierte Kriminalhauptkommissar Günther Kröger, hat akkurat Buch geführt über eine Schulfreundschaft mit wahrhaftiger Haltbarkeit.

Im Laufe der Jahrzehnte entstand so eine Chronik, die mehrere Hundert Seiten umfasst und einmaligen Charakter hat. Dazu zählen Klassenbücher aus der Nachkriegszeit und Listen in altdeutschen Buchstaben, auf denen Namen, Berufe und Einkommen der Eltern enthalten sind. Notiert sind ebenfalls Streiche und Kinderspiele mit historischem Charakter. Dokumentiert ist ein ebenso nachdenkliches wie unterhaltsames Stück Hamburger Klassen-, Lebens- und Zeitgeschichte.

Das meiste trägt die Handschrift des damaligen Klassenlehrers Ernst Kohl. Der Hanseat mit dem großen Herzen und einer pädagogischen Mission war mit zerschossener Gesichtshälfte von der Front heimgekehrt und begriff sich mehr als Lebensberater denn als Erzieher. „Er kümmerte sich auch außerhalb der Schule und am Wochenende um uns“, erzählt Wolfgang Hamdorf, früher Chef einer Bäckerei an der Liebermannstraße in Othmarschen. Die Jungs hatten es faustdick hinter den Ohren. Genüsslich zieht Günther Kröger eine „Gerichtliche Verfügung“ des Amtsgerichts vom 19. September 1951 hervor. Vorwurf: Der Schüler Günther, er selbst also, habe in Langenfelde „unbefugt das Bahngelände betreten“ und sei auf einer abgestellten Lokomotive erwischt worden. Gegen eine Geldbuße von zwei D-Mark wurde der Fall ad acta gelegt. Seiner Karriere bei der Kripo schadete dieses Vergehen nicht.

Kriminalhauptkommissar a. D. Kröger blättert in der zweibändigen Chronik mit gut 620 Seiten. Das Seifenkisten-Derby auf dem Venusberg ist ebenso dokumentiert wie alle möglichen anderen Spiele: Trudelreifen, Kippel-Kappel mit einem angespitzten Holzstock, selbst gefertigte Kreisel, Ditschen, Schmuggler und Gendarm..

Trotz glorreicher Streiche werden die Schattenseiten der Nachkriegskindheit nicht verdrängt. „Hammel“ bringt das Gespräch auf Karbid, das mittels Wasser zur Explosion gebracht wurde. Die Kinder kratzten es aus Bomben, die allerorts in den Trümmern lagen. Auch das Toben im Schutt auf dem Spielplatz Arnoldstraße gehörte zum Alltag. Im Bunker darunter waren während der Luftangriffe zuvor rund 500 Menschen ums Leben gekommen.

Klassenlehrer Kohl, streng aber beliebt, kümmerte sich sogar um die Lehrstellen seiner Schüler: Es sollte etwas werden aus den Jungs. In der Regel wurde es auch. Auch wenn Günther anhand der alten Klassenbücher Hans-Gustavs Sechs in Mathe beweist. Das adrette „Fräulein“ Kuhlmann in Religion, Herr Wulf in Werken oder Helmut Matthies in Musik tragen zur Entwicklung der Rasselbande aus Ottensen bei.

Als für die Jungs am 15. März 1951 die Volksschule endet, lebte die Freundschaft fort. Auch zum Lehrer Ernst Kohl, der stets zu den Klassentreffen eingeladen wurde. Eines späteren Tages waren die Herren per Du. Und als der Pädagoge 1986 beerdigt wurde, standen die in die Jahre gekommenen Jungs am Grabe ihres Mentors.