Zwischen 1900 und 1935 wagten junge Hamburger Architekten einenästhetischen Aufbruch. Die Ergebnisse kann man bei Führungen entdecken

Warum muss das Wetter bloß so ungemütlich sein? Hans Bunge, dick verpackt in einen winddichten Anorak, fingert einen Stapel Straßenpläne aus dem Rucksack. Jeder der knapp 20 Interessierten, die trotz der Kälte zum Treffpunkt am S-Bahnhof Othmarschen gekommen sind, bekommt einen Plan, in dem die architektonischen Kostbarkeiten der Elbvororte zwischen Klein Flottbek und Blankenese verzeichnet sind. Einige wollen wir bei diesem Rundgang kennenlernen. Viele Teilnehmer entdecken ihren Wohnort neu – nicht die weißen Gründerzeitvillen, sondern die junge Moderne im „Malerviertel“ gleich westlich von der A7, in dem viele Straßen die Namen berühmter Künstler tragen.

Diese junge Moderne ist erst seit der Ausstellung „Villen und Landhäuser“ 2012 im Jenisch Haus ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Die Ausstellung zeigt historische Fotos und einige erhaltene Grundrisse von Häusern, die sich gutbürgerliche und wohlhabende Familien zwischen 1900 und 1935 in den Dörfern westlich von Altona bauen ließen. Häuser, die deutlich anders aussahen als die Herrenhäuser à la Jenisch oder Baur. Die Rundgänge mit dem Alltagsforscher Hans Bunge sind quasi die Ortsbesichtigungen zur Ausstellung. Dabei ist auch Rüdiger Joppien, ehemaliger Leiter der Sammlung Jugendstil und Moderne des Museums für Kunst und Gewerbe.

Nach wenigen Minuten Fußweg sammelt sich unsere Gruppe vor zwei Villen in der Jungmannstraße, Nummer 1 und 3. Beide haben die Architektenbrüder Gerson 1908 und 1909 für die Familien Bondy und Zadik gebaut.

1867 war die Altona-Blankeneser Eisenbahn in Betrieb genommen worden, sagt Bunge. Man konnte also morgens ins Kontor nach Hamburg fahren und abends zurück „aufs Land“ nach Flottbek oder Othmarschen. Wer das Geld hatte, ließ sich hier etwas Besonderes bauen. Haus Bondy mit dem tief herabgezogenen Dach ähnelt einem norddeutschen Bauernhaus, aber die Hallenform hat einen Knick, aus dem ein Türmchen wächst. Viele Gaubenfenster sorgen für Licht. Auch Haus Zadik wirkt originell mit halbmondförmigem Grundriss und einem Turm mit kleinem Turmhelm.

Die Architekten Hans und Oskar Gerson waren damals erst 27 und 21 Jahre alt. Später bauten sie auch Kontorhäuser wie den Messberghof und den Thalia-Hof und wurden in den 1920er-Jahren Hamburger Star-Architekten. Mit rund 20Privat- und Landhäusern für wohlhabende Kaufleute, darunter Nicolaus Darboven und Max Warburg, hatten sie prägenden Anteil am Stil des „neuzeitlichen hamburgischen Landhauses“, so die Bauzeitschrift „Der Hamburger“ 1912.

„Man wollte statt der repräsentativen klassizistischen Villa etwas Intimeres, Individuelles, in dem sich die Familie wohlfühlte“, sagt Rüdiger Joppien. „Das war wie ein Rückzug ins Private. Von großen Balkons guckte die Familie ins Grün. Die Ziele waren privater Komfort, Bescheidenheit, Schönheit.“

Nach dem Ende der Gründerzeit waren die jungen Hamburger Architekten im Aufbruch. Interessiert blickten sie nach Großbritannien, wo Künstler um William Morris mit der „Arts & Crafts“-Bewegung den Wert des Handwerklichen feierten, einen neuen „Cottage Style“ prägten. Diese Elemente gefielen im anglophilen Hamburg. Auch hier gab es ab 1900 Bestrebungen, regionale Bautraditionen und Landschaften vor den „Verunstaltungen“ des Industriezeitalters zu schützen. Architekten wie die Gersons sahen sich als Teil dieser „Heimatkunst“-Bewegung: „zurück zu den Wurzeln“ und zum Handgemachten anstelle von Fabrikerzeugnissen. Ein gutes Beispiel zeigt uns Bunge um die Ecke an der Gottorpstraße. Die Häuser Nummer 3, 5 und 7 baute das Altonaer Architektenbüro Esselmann & Gerntke 1922 für drei befreundete Kaufleute.

1927 machte der Hamburger Architekt Karl Schneider mit einem weißen kubistischen Würfel von sich reden: dem „Haus Spörhase“ an der heutigen Baurstraße 74, unserer letzten Station. Die Front wirkt schlicht mit den schmalen Querfenstern, angeschrägtem Balkon und dem Verzicht auf jedes historische Ornament. Auf die Klassizismus-verwöhnten Hamburger wirkte Schneiders „Weiße Moderne“ wie ein Kometeneinschlag, sagt Hans Bunge. Schneiders berühmtester Bau war 1923 die kubistische Villa Michaelsen (heute das Puppenmuseum in Falkenstein).

Die Tour hat bewiesen, dass Hamburg viel mehr vorzuzeigen hat als die weißen Villen an der Alster.