Den Traum vom Ballett konnte sie sich nicht erfüllen. Wohl deshalb fördert Dörte Inselmann unermüdlich junge Talente in Tanz und Musik

Sommer 1981. Die Schule ist für immer zu Ende, das Leben wartet mit Tausenden Möglichkeiten, Abenteuern und neuen Erfahrungen - und Dörte Inselmann zieht nach Billstedt. Ein Stadtteil, dessen Name meist in Verbindung mit Begriffen wie "sozial schwach" und "Migrationshintergrund" auftaucht. Dank Inselmann haben sich noch zwei weitere dazugesellt: Talent und Kultur.

Die 52-Jährige ist Geschäftsführerin und Intendantin des Kulturpalasts Hamburg. Das Kulturzentrum hat seinen Ursprung zwar in Billstedt und seinen Sitz mittlerweile im früheren Wasserwerk des Stadtteils, seine Projekte HipHop Academy und Klangstrolche wirken aber weit über die Stadtteilgrenzen hinaus - sogar bis auf internationale Bühnen etwa in Schanghai und Moskau. Inselmann denkt lokal und global zugleich. Kleinkariertheit ist nicht ihr Ding. Davon hatte sie genug in ihrer Kindheit.

Inselmann wuchs ganz idyllisch in Neuengamme auf. Die Eltern waren Lehrer, Inselmanns zwei ältere Geschwister ergriffen später denselben Beruf. "Das will ich auf gar keinen Fall", wusste sie schon damals. Die Prioritäten der strengen und christlich geprägten Erziehung waren klar. Schule, "noch mal Schule", Musik, Sport. Inselmann spricht von Drill. Ein fester Tagesplan regelte, wann für was Zeit zu sein hatte. Regelmäßig gab es Hausmusik. Alle vier Kinder als Flötenquartett. "Ich fand das immer äußerst schrecklich", sagt Inselmann und lacht. "Meine Vorstellung von Kultur war schon früh eine andere als die bildungsbürgerliche zu jener Zeit." Dennoch beteuert sie: "Ich hatte ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Aber ich war schon früh darauf bedacht, mir meine Freiräume zu schaffen."

Die fand Dörte bei ihren Großeltern, die mit im Haus der Familie lebten und auf sie aufpassten, wenn Mutter und Vater arbeiteten. Oma und Opa sahen die Dinge nicht so eng wie die disziplinierten Eltern. "Sie hatten Spaß daran, dass ich kreativ war", sagt Inselmann rückblickend.

Als Mädchen hatte sie einen großen Traum: Tanzen. Eine Primaballerina mit Spitzenschuhen und Tutu wollte sie sein. Der Großvater, der einen Pflanzenhandel hatte, stellte ihr ein paar Veilchen zur Verfügung. Die durfte sie verkaufen, um von den Einnahmen den ersehnten Tanzdress zu bezahlen. Wie das ging, wusste Dörte von den vielen Malen, die der Großvater sie mit zum Markt genommen hatte. Nun stand sie also mit den Veilchen auf der Milchbank am Deich und erarbeitete sich den ersten Schritt in Richtung einer großen Tanzkarriere. Bald hatte sie das Geld zusammen und wollte mit dem Großvater los, um das Tutu zu kaufen. "Aber dann haben meine Eltern die Sache spitzgekriegt, und es wurde ein Anorak daraus", sagt Inselmann. "Es war ganz schon frustrierend, dass ich mir diesen Traum nicht erfüllen konnte."

Stattdessen begann sie mit Tischtennis. Bis in die Hamburg-Liga hat sie es geschafft. Irgendwann in der Pubertät wurden ihre Noten schlechter. Die Eltern wollten ihre Tochter von der Schule nehmen. Aber damit stießen sie auf deren Dickkopf. "Nein, ich werde mein Abitur machen", dachte sie sich und wechselte auf die Wichern-Schule in Horn, die auch bereits ihre beiden älteren Geschwister besuchten.

Etwa zur gleichen Zeit begann sie mit Jugendarbeit in der Billstedter Kreuzkirche. Ehrenamtliches Engagement war Teil ihrer Erziehung, und bereits auf dem Land organisierte sie Zeltlager und Ausflüge. "Aber hier hatte das alles einen viel größeren Effekt", sagt sie. Weil auch die Probleme viel gravierender waren. Inselmann erzählt von einem Schlüsselmoment: Sie empfing gerade die Teilnehmer eines Zeltlagers. Eine volltrunkene Mutter kam vorbei, gab ihre fünf Kinder ab und drückte Inselmann einen Müllsack mit ein paar Klamotten in die Hand. Das war alles. "Das hat mich fassungslos gemacht und meinen Wunsch geweckt, mich mit den Verhältnissen nicht abzufinden."

1983 begann Dörte das Studium zur Diplom-Sozialpädagogin. Bereits zwei Jahre zuvor hatte sie mit Gleichgesinnten den Verein "Kulturpalast im Wasserwerk" gegründet. Die Zahlen sind beeindruckend. Anfangs hatte der Kulturpalast noch gut 1000 Besucher. 2004 waren es bereits 63.000 plus die 150.000 Besucher des Festivals BilleVue.

Im selben Jahr begann Inselmann ein zweites Studium: Kulturmanagement. Unternehmerisches Denken hatte ihr Großvater ihr zwar mit auf den Weg gegeben, und die Arbeit in Billstedt lehrte sie, dass Marken wie "HipHop Academy" und "Klangstrolche" wichtig sind, da die Familien dort ihre Kinder lieber zu den Klangstrolchen als in die musikalische Frühförderung schicken. 2010 besuchte sogar Kanzlerin Angela Merkel während einer Hamburg-Visite die HipHop Academy. Es klingt wie eine Ironie der Geschichte, dass gerade Dörte Inselmann, deren Traum vom Tanzen unerfüllt blieb, mit Hip-Hop Integrations- und Jugendarbeit leistet. Andrerseits ist es nur konsequent, denn es geht ihr darum: Kultur für alle.