Immer mehr Hörende lernen Gebärdensprache - und entdecken, dass sie eine Bereicherung ist

Die Tür ist zu. Keiner darf mehr sprechen. Plötzlich taucht der ganze Raum in Stille ein.

Obwohl, nein. Ganz still ist es nicht. Da liegt eine Uhr auf dem Tisch in der Ecke. Hat der Sekundenzeiger schon vorher so laut getickt? Der Filzstift quietscht beim Schreiben. Stoff reibt aneinander. Atmen. Draußen fährt ein Auto vorbei. Nach und nach kalibrieren sich die Sinne neu. In einem Kellerraum in Othmarschen zerfällt der dichte Brei des alltäglichen Hintergrundrauschens in seine Einzellaute.

Nicole Simon, mit dem Filzstift in der Hand, schreibt: "Wo lernst du DGS?". Quietschen an der Tafel, Stoffgeraschel, Atmen. Eine einfache Lektion. Es ist der vierte Tag eines einwöchigen Anfängerkurses für Deutsche Gebärdensprache, kurz DGS, im Haus des Gehörlosenverbandes Hamburg an der Bernadottestraße. Nicole Simon, von Geburt an gehörlos, ist die Dozentin. Vier Frauen sitzen als Schülerinnen vor ihr. Sie können hören.

Wo lernst du DGS? Nicole Simon macht die Gebärden vor. Erst für "du", denn die Grammatik in der Gebärdensprache funktioniert anders als die der Lautsprache. Das Muster: "Du DGS lernen wo?" Deshalb das erste Wort: "Du". Diese Gebärde ist leicht. Nicole Simon zeigt mit dem Zeigefinger auf Barbara Brauer, eine der Teilnehmerinnen. "DGS" - jeder Buchstabe wird per Fingeralphabet einzeln buchstabiert. "Lernen" - alle fünf Fingerspitzen der rechten Hand berühren sich und tippen an die rechte Schläfe. Letztes Wort: "Wo?" Beide Hände werden fragend auseinandergehalten, Handflächen nach oben.

Sechs Handbewegungen für einen Satz. Eine Sprache allein der Hände ist Gebärdensprache trotzdem nicht: Der ganze Oberkörper ist in Bewegung, jedes Wort wird auch mit den Lippen geformt, Augen, Brauen, die gesamte Mimik sind Teil der Kommunikation.

Die Zahl der Gehörlosen wird in Hamburg auf 2000 geschätzt, der deutsche Gehörlosenbund zählt bundesweit etwa 80.000. Sie teilen neben einer gemeinsamen Sprache auch eine gemeinsame Kultur - und in die tauchen jetzt auch immer mehr Hörende ein.

Barbara Brauer etwa, 57. Sie lebt in einer Patchworkfamilie aus Hörenden und Gehörlosen. Jeder, der sich hier anmeldet, hat andere Gründe. Angelika Fehrenkamp etwa ist in ihrem Büro zur Führungskraft aufgestiegen. Einer ihrer Mitarbeiter ist gehörlos. Weil er nicht das Gefühl haben soll, außen vor zu sein, ist sie hier. "Um ihm Respekt entgegenzubringen."

Früher, erzählt Nicole Simon dem Abendblatt mithilfe einer Dolmetscherin, habe es höchstens zweimal pro Jahr einen DGS-Grundkurs gegeben. Vor allem, seit Gebärdensprache im Jahr 2002 als eigenständige Sprache anerkannt wurde, gebe es aber immer mehr Interessenten - und Kurse. "Bis man sich auf DGS unterhalten kann, braucht man mindestens 90 Stunden", sagt Simon. Barbara Brauer sagt: "Wer mit DGS anfängt, kann seine bekannte Sprache komplett in den Mülleimer werfen. Man muss alles neu lernen." Schon beim Zusehen ahnt man, wie anstrengend das ist.

Gebärdensprache zu lernen heißt, sich zu konzentrieren. Sich dem anderen voll und ganz zuzuwenden. Keine Geste, keine Bewegung der Augenbrauen darf einem entgehen. Sich in Gebärdensprache zu unterhalten, ist deshalb auf gewisse Art und Weise intim. "Man lernt wieder, worauf es bei Kommunikation und beim Miteinander eigentlich ankommt", sagt Brauer. Ganz anders als im alltäglichen Leben Hörender, in dem es kein Problem sei, jemandem etwas zuzurufen und nebenbei das Geschirr abzuwaschen: "Diese Erkenntnis ist eines der schönsten Dinge, die ich aus diesem Kurs mitnehme."

Und so lernen die Kursteilnehmer, dass DGS viel mehr ist als nur ein Ersatz für Lautsprache: Durch die Vielzahl der Ausdrucksmittel vermag sie oft mehr zu sagen als das gesprochene Wort.

Die leichten Gebärden sind jene, die Bilder schaffen. Die Hamburger Stadtteile etwa haben eigene Gebärden, einige sind unmittelbar einleuchtend: Wer "Harburg" sagen will, nimmt eine Haarsträhne in die Hand, wer Harvestehude sagen will, imitiert das Harfespiel. Auch die Gebärde für "essen" ist so, wie man sie sich vorstellen würde: Man tut so, als würde man einen Löffel in der Hand halten und führt ihn zum Mund. Im arabischen Raum wird die Bewegung nachgeahmt, mit den Fingern zu essen. "Auch Gebärdensprache", sagt Simon, "ist in jedem Land anders." Selbst in Deutschland unterscheiden sich die Dialekte. Die Akademie der Wissenschaften in Hamburg erstellt deshalb gerade ein DGS-Wörterbuch.

Je länger der Kurs dauert, desto mehr rücken auch die Geräusche, die anfangs so präsent waren, wieder in den Hintergrund. Nicole Simon kennt diesen Effekt. An die Tafel schreibt sie: "Die Ohren haben Urlaub."