Theater-Fundus: Abendblatt-Kollegen Ann-Kristin Kostyal und Tino Lange im Kleiderrausch

Als wir den Fundus verlassen, in den schlicht-funktionalen Klamotten unserer Zeit, da sind wir plötzlich wieder: nur wir. Tino, Ann-Kristin, ich. Und ich frage mich, ob das immer so bleiben wird: dass wir nur tragen, was in den Geschäften hängt, industrielle Massenware, aber eben auch erschwinglich. Leicht und bequem. Und nicht wie dieses tonnenschwere rote Kleid aus Molières "Tartuffe".

Anja Fassel wusste das sofort, die Gewandmeisterin des Theaters, sie kannte das Stück und wann es gespielt wurde: Januar 2012. Sie stand bei uns und sagte noch etwas, was wir nicht verstanden. Der Stoff um uns herum schluckte den Schall ihrer Worte.

Der Kostümfundus des Ernst Deutsch Theaters ist einer der wunderlichsten Orte dieser Stadt. Er liegt im ersten Stock eines Altbaus in Dulsberg, vier Kilometer entfernt vom Theater an der Mundsburg. Das Gebäude war mal eine Fischfabrik. Heute ist in dem Haus eine große Theaterwerkstatt untergebracht, mit Holzwerkstatt und Malersaal, hier werden Stücke geprobt und Kostüme genäht. Und gelagert.

Den Fundus, den es seit fast sechs Jahrzehnten gibt, darf jeder betreten. Darf sich durch die Epochen staunen, kann sie berühren, anprobieren, ausleihen - natürlich nur für eine bestimmte Zeit und für eine festgelegte Gebühr. Hauptsächlich sollen sich hier Amateurgruppen und Theater-AGs für ihre Aufführungen ausstatten - oder Hamburger Bühnen, die zu klein sind für eine eigene Gewandmeisterei.

Wer sich hierher verirrt, der findet alles, was auf einer Bühne Platz hat: Es gibt Handys, Hexenbesen und eine Jukebox. Und viele Teppiche, Stühle, Sessel und Tische, dicht gestapelt, bis unter die Decke. Im Kostümfundus ist das nicht anders. Die Kleider hängen von der Decke bis zum Boden, sie bilden Gänge, die so eng sind, dass man mit den Schultern ständig Ärmel streift.

Zuverlässig ziehen Ann-Kristin und ich alle Kleider aus der Welt der Märchen heraus: Prinzessinnenroben mit Rosen am Dekollete, schwarze Hexenkleider mit schwarzen Federn an den Ärmeln. Und natürlich: die Robe der bösen Stiefmutter aus "Aschenputtel". Es ist erschreckend, wie böse Ann-Kristin dreinschauen kann. Sie sagt, das sei ihr gar nicht schwergefallen: Das habe doch alles das Kleid gemacht.

Kleider machen Leute. Um die Grenzen der eigenen Persönlichkeit zu sprengen, braucht es manchmal nur einen Frack oder eine Halskrause. Oder ein Kleid aus einer Zeit, als die Mode noch ein Handwerk war - kein Massenprodukt. Die Kostüme gibt es in einer Größe: in der des Schauspielers oder der Schauspielerin, für den/die das Kostüm von Hand gefertigt wurde.

Tino trägt jetzt die hochhackigen Schuhe von Ludwig XVI. und rudert mit den Armen. Vor dem Spiegel geht er ein paar Schritte und kaum merklich hat sich sein Gang zu einem Schreiten verändert. Sein Oberkörper ist aufrecht, das Kinn nach oben gereckt.

Ann-Kristin zieht das Kleid der Stiefmutter aus "Aschenputtel" aus, das geht nicht ohne Hilfe. Dafür hat sie: mich. Ich habe das Kostüm einer Magd gewählt, einfach, aber hübsch. Die vordere Partie lässt gar nichts anderes zu als eine sehr aufrechte Haltung. Selbst wenn ich zum Knicks in die Knie gehe.

Wenn Kinder sich verkleiden, dann meinen sie das meist ungeheuer ernst. Sie spielen den Piraten nicht, sie sind der Pirat. Wenn Erwachsene sich verkleiden, dann ist das der kontrollierte Ausbruch aus der Vernunft. Im Fundus des Ernst Deutsch Theaters begreifen wir schnell: Es braucht nicht viel, um ein anderer Mensch zu werden. Es braucht nicht viel, um wieder ein Kind zu sein.

Der Kostümfundus des Ernst Deutsch Theaters, Alter Teichweg 55, ist mo-do, 9-15.30 Uhr, geöffnet. Anmeldung unter 61 17 87 13. Die Leihdauer beträgt einen Monat für Privatpersonen, Gebühren (Beispiele): Historisches Damenkleid 16-41 Euro, Mönchskutte 15 Euro, Bäuche 6-13 Euro.