Can ist Austauschschüler. Der junge Türke wohnt bei den Böhms in Sülldorf

Can hat es nicht immer leicht mit den Frauen des Hauses. Jule und Clara sagen dem 16-Jährigen aus Istanbul, wo es langgeht. Dass er sich am Telefon mit Namen melden soll. Das mache man in der Familie Böhm so. Sie lästern auch darüber, dass Can gleich zwei Körbe mit Kosmetika im Badezimmer mit seinen Utensilien belegt, obwohl er doch ein Junge sei. Das sichere Fahrradfahren im Straßenverkehr haben sie ihm auch beigebracht. Dafür imponiert Can der 14-jährigen Clara mit Kartentricks. Jule und Clara sind seine Schwestern auf Zeit. Seit gut vier Monaten lebt Can als Austauschschüler bei den Böhms in Sülldorf. Ein Jahr bleibt er in Hamburg.

Am Anfang, erzählt Mutter Iris Böhm, habe sie die Krise bekommen. "Bei uns in der Familie fahren alle mit dem Rad zur Schule, und Can fragte mich, wie teuer eigentlich ein Taxi zur Schule sei", sagt sie und lacht. Startschwierigkeiten. Ein Jahr lang war Can in Istanbul kein Rad mehr gefahren. An die Verkehrssituation auf Hamburgs Straßen musste er sich erst gewöhnen, ehe er sicher zur Schule, dem Marion-Dönhoff-Gymnasium in Blankenese, fahren konnte. Dort geht er in die 11. Klasse.

Und auch was die Pünktlichkeit angeht, sei es mit ihrem Gastsohn besser geworden. "Er bemüht sich!" Das klingt alles viel nörgeliger, als es gemeint ist. Wer Familie Böhm zu Hause besucht und mit Can, seinen Gastschwestern und den Gasteltern Iris und Uwe Böhm am Esstisch sitzt, merkt, wie herzlich das Verhältnis untereinander ist. Vater Uwe und sein "Sohn" kochen gern gemeinsam Cans Lieblingsgericht Geschnetzeltes. "Seine Mutter wird staunen, wenn er nach Hause kommt und kocht", sagt Iris Böhm. In der Türkei kocht Can nämlich nie für die Familie. Jetzt ist seine Familie in Hamburg, und der Junge mit der Brille und den dunklen Haaren ist längst ein Teil davon.

Die Familie war in Kontakt mit Youth for Understanding (YFU), einer gemeinnützigen Austauschorganisation mit Sitz an der Oberaltenallee. "Wir wollten gern einen sportlichen Gast. Ich hatte Angst, dass wir so einen Macker kriegen", sagt Mutter Iris. Sie bekam eine Liste mit Steckbriefen. Die Schwestern entschieden sich für Can. Sportlich ist er in der Tat. "Er schafft mühelos 20 Liegestützen hintereinander", sagt Clara. Überhaupt scheint sie ihren Gastbruder großartig zu finden.

Und was, meint Can, ist typisch deutsch? "Die Menschen sind verplant. Der Kalender ist wichtig, da steht alles drin", sagt er in einem sehr guten Deutsch. Er selber sei lieber spontan.

Die Gründe junger Menschen wie Can, sich für ein Auslandsjahr zu entscheiden, sind vielfältig. Meistens geht es darum, fremde Kulturen kennenzulernen, den Horizont zu erweitern und die Sprachkenntnisse zu verbessern.

Zurzeit sind 23 Austauschschüler von YFU in der Stadt untergebracht. Das betrifft aber nur das reine Stadtgebiet. Inklusive Umland sind es fast 50. Mara Skaletz von YFU: "Hamburg ist die Stadt mit der größten Anzahl von YFU-Austauschschülern." Viele Gastfamilien wohnen am Stadtrand oder in mittelgroßen oder kleinen Städten. "Das liegt vermutlich daran, dass dort eher zusätzlicher Wohnraum für ein internationales Familienmitglied da ist als in den tendenziell engeren Wohnungen der Innenstädte", so Skaletz.

Wer ein Schuljahr im Ausland verbringt, verbessert auch seine Schulnoten, belegt eine Studie, an der mehr als 1000 ehemalige Austauschschüler des Deutschen Youth for Understanding Komitee teilnahmen. "Die meisten Austauschschüler erklären sich ihre Leistungssteigerung neben den verbesserten Sprachkenntnissen vor allem durch ein größeres Selbstbewusstsein", sagt die Autorin der Studie, Lisbeth Hürter. Die Erfahrungen aus dem Austauschjahr seien auch für den Lebenslauf richtungsweisend: So entscheiden sich ehemalige Austauschschüler besonders oft für weitere Auslandsaufenthalte.

"Meistens sind es Familien, die ein Zimmer übrig haben, die Gastschüler aufnehmen", sagt Mara Skaletz. Ein eigenes Zimmer ist für einen Schüleraustausch aber keine Voraussetzung. Umgekehrt verbringen deutsche Schüler am liebsten in den USA, Neuseeland, Australien und Kanada ein Jahr.