Hamburg. Marcel ist seit einem Sturz querschnittsgelähmt. Der 19-Jährige kann mit einer Therapie gehen lernen. Die Krankenkasse zahlt nicht.

Es ist dieser Anruf mitten in der Nacht, den jede Mutter und jeder Vater fürchten. Die Polizei, die mitteilt, dass dem eigenen Kind etwas Schreckliches zugestoßen ist. „Ein Polizeibeamter rief um null Uhr dreißig an und sagte, mein Mann und ich müssten sofort kommen, unser Sohn habe einen Unfall gehabt und sei auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich werde diese Stimme niemals vergessen“, sagt Olga Maurer. Tränen schießen ihr in die Augen, während sie von dem Tag im Juni 2017 berichtet, der ihr Leben und das ihres damals 16 Jahre alten Sohnes Marcel für immer verändert hat.

Er hatte gerade seinen Realschulabschluss in der Tasche. Mit Freunden war er feiern, sie waren unterwegs in Buchholz. „Wir haben rumgealbert. Eine Freundin sagte zu mir, ich solle auf den Baum am Wegrand klettern. Der war noch nicht mal besonders groß. Ich habe gar nicht nachgedacht, sondern mich hochgehangelt“, sagt Marcel (19). Er hing in ungefähr drei Meter Höhe an einem Ast, als dieser abbrach.

Marcel fiel vom Baum, konnte seine Beine nicht mehr bewegen

Der Junge fiel mit dem Rücken auf einen harten Gegenstand. „Ich konnte nicht mehr aufstehen, meine Beine nicht bewegen“, erinnert er sich. Seine Freunde trugen ihn auf eine Bank, dann kam der Krankenwagen und fuhr ihn ins UKE nach Hamburg. Dort bekam Marcel die niederschmetternde Diagnose: Er ist ab der Brust abwärts querschnittsgelähmt – mit einer Harnblasen- und Mastdarmfunktionsstörung.

Nach diversen Operationen kam er neun Tage nach seinem Sturz ins BG Klinikum Hamburg (Boberg). Dort setzten ihn Pfleger in einen Rollstuhl. „Erst da habe ich kapiert, dass das meine Zukunft sein soll. Ein Leben im Rollstuhl. Das kann ich mir bis heute nicht vorstellen“, sagt Marcel. Er war in Boberg mehrere Monate in der Reha, lernte, im Alltag mit dem Rollstuhl zurechtzukommen.

Die Familie unterstützt und kämpft für ihn: Marcel mit seinen Eltern und dem jüngeren Bruder
Die Familie unterstützt und kämpft für ihn: Marcel mit seinen Eltern und dem jüngeren Bruder © Sebastian Becht

Er kann sich selbstständig von dem Gefährt ins Bett stemmen, sich auf die Toilette oder in den Sitz des Treppenlifts, der zu Hause durch das ganze Reihenhaus führt, heben. Aber Marcel möchte heraus aus dem Rollstuhl – er möchte wieder laufen, dafür trainiert er jeden Tag seit eineinhalb Jahren. Die Chancen dafür stehen sehr gut – allerdings nur, wenn er eine intensive dreimonatige Therapie in einem hoch professionellen Rehazentrum in Pforzheim macht. Diese kostet 50.000 Euro und wird von der Krankenkasse nicht bezahlt, trotz positiver Prognose.

Die Maurers arbeiten hart, können sich die Therapie aber nicht leisten

Die Maurers können sich das nicht leisten, schon der behindertengerechte Umbau des kleinen Hauses, die Anschaffung verschiedener Trainingsgeräte haben die Ersparnisse des Hafenfacharbeiters und der Zahnarzthelferin aufgebraucht. Deswegen haben sie sich an den Verein „Hamburger Abendblatt hilft“ gewandt. Gemeinsam suchen die Maurers und der Verein nun Spender, die Marcel diese Therapie ermöglichen. Es ist eine so große Chance für einen jungen Mann, der sein Leben noch vor sich hat.

Marcel ist hoch motiviert, wieder auf seine Beine zu kommen. In seinem Zimmer steht ein Trainingsturm, mit dem er seinen Oberkörper und Rücken stärkt. Er hat ein Stehpult und ein Bewegungsgerät für die Beine. Der Oberkörper und die Arme des jungen Mannes sind muskulös, auch die Beine sind trotz der zwei Jahre, die er überwiegend im Sitzen verbringt, kräftig.

Seine Physiotherapeutin übt mit ihm das Laufen

Zwei- bis dreimal in der Woche fährt seine Mutter ihn zu Marion Ritz-Jonas. Seit März 2018 ist er bei ihr in der Praxis in Neu Wulmstorf. Die engagierte Physiotherapeutin hat es geschafft, den damals schwer deprimierten Jungen aus seinem Tief zu holen und ihm neue Hoffnung zu geben. Sie stellte ihn nach drei Wochen das erste Mal auf die Beine. „Er sollte sich an der Sprossenwand hochziehen und daran stehen. Zuerst schaute er ungläubig, dann stand er. Das Lächeln auf seinem Gesicht werde ich nie vergessen“, sagt die 56-Jährige, die seit 30 Jahren in dem Beruf arbeitet und mit Marcel mehr trainiert, als ihr von der Kasse bezahlt wird.

Marcel Maurer übt an einem Barren und mit Orthesen jeden Tag das Laufen.
Marcel Maurer übt an einem Barren und mit Orthesen jeden Tag das Laufen. © Sebastian Becht

„Das Problem ist, dass den Querschnittspatienten von Ärzten, vielen Therapeuten und Reha-Einrichtungen gesagt wird, sie sollten sich mit ihrer Diagnose und mit einem Leben im Rollstuhl abfinden. Das ist falsch, denn keiner hinterfragt, ob es nicht noch andere Ressourcen gibt, die die Funktion des Laufens übernehmen können“, sagt Ritz-Jonas.

Marcel kann sein Becken stabil halten

Bei Marcel ist es das Becken, das er dank ihres speziellen Trainings kontrollieren und damit stabilisieren kann. Dabei hilft ihm eine Spastik, also eine krankhaft erhöhte Muskelspannung im Bauch, die er durch die Nervenschädigung im Rückenmark hat – für ihn ist sie in diesem Fall ein Vorteil. So läuft er aus der Hüfte heraus an einem Barren, der zu Hause im Keller steht, schon selbstständig mehrere Schritte mit Orthesen, die speziell für ihn angefertigt wurden und die seine Beine im Knie versteifen.

„Wir haben ein halbes Jahr mit der Krankenkasse wegen dieser Orthesen gekämpft. Die Kasse wollte nicht einsehen, wofür Marcel sie braucht“, sagt seine Mutter Olga Maurer. „Doch als er sie in diesem Frühjahr zum ersten Mal anhatte, aufrecht vor dem Spiegel stand und mich so glücklich anschaute, wusste ich, dass es sich gelohnt hat.“ Dafür fuhr sie mit ihm zu einem Orthopädietechniker bei Freiburg. Dort erfuhren die beiden von den großen Erfolgen des Zentrums der Rehabilitation in Pforzheim.

Die Mutter kämpft für die Zukunft ihres Sohnes

Marcels Mutter trägt eine große Last auf ihren schmalen Schultern. Ihr Mann hat zwar viel im Haus selbst umgebaut, aber es fällt ihm schwer, mit der Situation zurechtzukommen. „Ich muss um jedes Gerät, um jede Therapie mit der Kasse streiten. Im Moment funktioniere ich nur. Aber ich glaube ganz fest an Marcel und fördere seinen Wunsch nach mehr Selbstständigkeit“, sagt sie.

Im Sommer 2019 war sie mit ihm zu einem Probetermin in dem Rehazentrum. „Wir können keine Wunder vollbringen. Aber Marcel hat gute Voraussetzungen fürs Gehen. Er hat jetzt schon eine gute Standbeinphase. Ich bin mir sicher, dass er nach den zwölf Wochen bei uns ohne Orthesen am Rollator oder mit Gehhilfen laufen kann“, sagt Daniela Dorschner-Geerlofs, die das Rehazentrum gemeinsam mit ihrem Mann und Sohn leitet.

Das Rehazentrum im Pforzheim ist auf Querschnittspatienten spezialisiert

Zu ihnen kommen Querschnitts- und Schlaganfallpatienten aus der ganzen Welt. Denn anders als in einer normalen Reha, wo es nur zwei- bis dreimal Mal die Woche eine Stunde Physiotherapie gibt, trainieren hier bis zu zwei Therapeuten gleichzeitig mit einem Patienten sechs Stunden pro Tag. Zudem gibt es einen Gehroboter (Lokomat), mit dem Behinderte wieder ein Gefühl für das Gehen bekommen.

Marcel Maurer will wieder Treppen steigen können.
Marcel Maurer will wieder Treppen steigen können. © Sebastian Becht

„Durch das intensive und sehr individuelle Training schaffen wir es, dass der Querschnittsgelähmte neue Muskeln ansteuern kann, um zu gehen. 60 Prozent unserer Patienten brauchen danach auch keinen Katheter mehr, können ihre Blase kontrollieren, viele haben später eine Familie“, sagt Dorschner-Geerlofs.

Für Marcel gibt es nur ein Ziel für eine bessere Zukunft: Laufen lernen

Das intensive Trainingsprogramm inklusive Essen und Unterkunft kostet pro Tag mehrere Hundert Euro. Das Zentrum steht nicht im Leistungskatalog der Krankenkassen, deswegen muss es privat finanziert werden.

Für Marcel gibt es derzeit nur ein Ziel: nach Pforzheim zu kommen. Er wird zwar immer auch den Rollstuhl benötigen, zusätzlich gehen zu können würde aber für ihn bedeuten, dass er keine schmerzhaften Druckstellen mehr durch das Sitzen hätte, den Rolli selbst in ein normales Auto legen und Rolltreppe fahren könnte. Wenn er mit Freunden ausgeht, könnte er in einer Gaststätte zur Toilette laufen, in einem Hotel in die Dusche gehen, sich Dinge aus dem oberen Küchenschrank holen. Seine Chancen auf einen guten Ausbildungs- und Arbeitsplatz im Herbst wären viel höher, der Alltag für diesen jungen Mann würde so viel leichter. „Ich möchte vor allem, dass mein Sohn Marcel endlich wieder glücklich wird“, sagt Olga Maurer.

Wir möchten Marcel bei den Therapiekosten unterstützen. Bitte spenden Sie dafür unter dem Stichwort „Marcel“ an Kinder helfen Kindern, Haspa, IBAN: DE25 2005 0550 1280 1446 66. Sollte mehr Geld eingehen, als benötigt wird, dürfen wir es für ähnlich schwere Fälle einsetzen. Infos zum Verein: www.abendblatt-hilft.de